Dass das Denken der Menschheit eine Veränderung durchmacht, wird selbst dem oberflächlichen Beobachter täglich und stündlich klarer, und daß diese Veränderung zuweilen auf eine gute, zuweilen auf eine minder gute Art und Weise offenbar wird, ist dem, der sich die Mühe nimmt, die Tagesneuigkeiten zu lesen, ebenfalls offenbar. Viel mentaler Aufruhr kommt an die Oberfläche. Zum Teil äußert er sich in Ausständen und Androhung von Ausständen wegen wirklicher oder eingebildeter Einschränkungen der Rechte der Arbeiter, während sich die Kapitalisten den Forderungen der Arbeiter widersetzen. Und so scheint es zuweilen, als ob selbst die Grundfesten der Gesellschaft infolge des Hin- und Herzerrens der streitenden Mächte ins Wanken gekommen seien.
Für den, dessen Denken auf den Felsen geistiger Erkenntnis gegründet ist, sind diese Störungen keineswegs beunruhigend. Sie sind nur Zeichen der Zeit, die man wohl prüfen muß, die aber keineswegs den Zusammenbruch der bestehenden Gesellschaft andeuten; ja man kann das gerade Gegenteil hiervon aus der Tatsache schließen, daß das Wirken des Gesetzes des Prinzips noch niemals in der Weltgeschichte so offen von den geistigen Führern der verschiedenen Nationen anerkannt worden ist, wie gerade jetzt. Mrs. Eddy sagt auf Seite 227 von „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“: „Bürger der Welt, nehmt die herrliche ,Freiheit der Kinder Gottes' an und seid frei!“ Diese inhaltsschweren Worte verlieren durch häufiges Wiederholen nichts an Bedeutung. Sie betonen nur die Tatsache, daß unsere Führerin mit prophetischem Blick erkannte, daß die Zeit schnell näher rückt, wo Gott, das Prinzip, nicht nur in Kirchenangelegenheiten, sondern auch in der Familie, in der Gesellschaft und im Staate in Betracht gezogen werden muß.
Seit Beginn der Weltgeschichte ist Freiheit, wo immer sie zum Ausdruck kommen konnte, der Gegenstand des menschlichen Sehnens gewesen, und man kann kaum annehmen, daß ein solches Sehnen sich nicht in dem Leben der primitivsten Menschen geäußert hätte. Es ist keine unvernünftige Behauptung, daß das Verlangen nach zwangloser körperlicher Tätigkeit, welches alle Menschen verspüren, nichts weiter ist als eine materielle Fälschung jenes Verlangens nach Freiheit, das jedem Gotteskind innewohnt. Ein Trachten nach beständiger Entfaltung der Freiheit ist eine der wirkungsvollsten Ursachen gewesen, die zur Erhebung des Menschengeschlechtes beigetragen haben. Freiheit der Handlung äußert sich in der niedrigsten Form als körperliche Bewegung, und der Versuch, sich von irgendeinem vermeintlichen körperlichen Zwang zu befreien, läßt nur das Verlangen des sogenannten menschlichen Gemütes nach Freiheit im Ausdruck des Gedankens erkennen. Ist es somit nicht eine augenscheinliche Wahrheit, wenn man behauptet, Freiheit sei ein elementares Ideal und daher das Erbe aller, von ihren niedrigsten Formen bis zu ihrem höchsten mentalen Ausdruck?
Keinesfalls darf man Freiheit mit Zügellosigkeit verwechseln; denn Zügellosigkeit bedeutet volle Hingabe an Leidenschaften, Wollust und Begierden. Diese Dinge sind das gerade Gegenteil von Freiheit, denn wenn man ihnen frönt, so heißt das, daß man sich der Sklaverei der Sinne ergibt, was unausbleiblich (wie die Geschichte der Menschheit durch alle Jahrhunderte hindurch beweist) die Nachmaht des Leidens und der Reue mit sich bringt. Es bedeutet eine strengere, qualvollere und unerträglichere Knechtschaft als je die Knechtschaft der Galeerensklaven im alten Rom war. Wahre Freiheit kann man nur dadurch erlangen, daß man beständig danach strebt, die Fesseln der Materie oder der sogenannten materiellen Sinne zu sprengen und dem Gesetz Gottes, des Guten, Gehorsam zu leisten, jenem Gesetz, dessen Befolgung Freiheit von mentalen wie körperlichen Leiden verbürgt. Indem man so dem Gesetz Gottes in aller Demut und Selbstlosigkeit Gehorsam leistet, nimmt man sofort eine Stellung ein, in der man die Segnungen der Freude, des Friedens, der Gesundheit und der Harmonie empfangen kann. Die Ruhe und der Friede des richtigen Denkens wiegen bei weitem alle materiellen Vergnügungen auf, nach denen das sterbliche Gemüt trachtet. Ein nie schwankendes Vertrauen auf das Prinzip, das, wie wir ja wissen, imstande ist, jede Notdurft zu stillen oder jedes Zustandes, der eintreten mag, Herr zu werden, ist der wichtigste Faktor in der beständigen Entfaltung wahrer Freiheit, da dieses Vertrauen den Menschen von Furcht, Sorge und mentaler Unruhe befreit, von den Folgeerscheinungen irgendeiner scheinbaren Disharmonie, die etwa mental oder körperlich zum Ausdruck zu kommen sucht.
Die menschliche Auffassung von Freiheit vermag auch nicht den kleinsten Teil der Freiheit zum Ausdruck zu bringen oder in sich zu fassen, die dem Menschen durch seine Erkenntnis der Wahrheit zuteil wurde, welche, wie Jesus sagte, die Menschen frei macht. Die Menschen waren es gewöhnt, im täglichen Leben mit einem Gebete an die Arbeit zu gehen, um vor dem Unglück, das ihnen zu drohen schien, geschützt zu sein. Der Kaufmann betete, daß er vor Mißerfolg im Geschäft bewahrt bleibe, der Arbeiter, daß er den Gefahren seines Handwerks entgehen möchte, der Reisende, daß ihn keine der Gefahren zustoßen möchten, die angeblich mit dem Reisen zu Land und zu Wasser verknüpft sind, der Soldat, daß er von den grauenhaften Gefahren seines Berufes verschont bleibe. Und so könnte man alle Arten der Betätigung anführen, von denen scheinbar eine jede ihre besondere Sorge und Gefahr mit sich bringt, vor der man auf der Hut sein muß. Und zu allem kommt noch die beständige Furcht vor Krankheit, der, wie man annimmt, alle Menschen ausgesetzt sind und die vermeintlich stets auf der Lauer liegt, um sich früher oder später auf ihr hilfloses Opfer zu stürzen.
Seit vielen Jahrhunderten hat die Menschheit um Erlösung von unliebsamen Dingen gebetet. Kann man jedoch behaupten, daß Krankheit durch ihre Gebete von der Erde verschwunden ist? Sind Kriege und Elend aus der menschlichen Erfahrung beseitigt worden, so daß die Menschen von der Furcht vor ihrer Wiederholung befreit worden sind? Leider muß man hierauf fast durchweg mit einem Nein antworten. Was ist aber der Grund dafür, daß sich die Menschen noch in der Knechtschaft dieser Übel befinden? Ist das Gebet nutzlos, oder hat es seine Wirkung verloren, die es im grauen Altertum gehabt haben mag? Das Gebet der Erkenntnis ist heute ebenso wie früher über jeden Begriff des menschlichen Gemütes hinaus wirksam; aber in dem Gebet des materiellen, sterblichen Gemütes kommt ein nur sehr mangelhaftes Verständnis von der wahren Funktion des Gebetes zum Ausdruck. Ein solches Gebet macht in den meisten Fällen eine noch größere Wirklichkeit aus der gefürchteten Sache; es bildet sich oder erschafft zunächst eine bestimmte Annahme von Furcht, und betet dann, von ihr befreit zu werden. Nichts, was der wahren Idee von Ungebundenheit oder Freiheit nahekommt, ist in diesem mentalen Zustand zu finden.
Nur wenn dem Menschen das Verständnis von der Unwirklichkeit alles Bösen — alles dessen, was dem Guten unähnlich ist — im Sinne der Christlichen Wissenschaft klar gemacht wird, ist er imstande, sich einen vollständigen Begriff von wahrer Freiheit zu machen. Wenn das Denken von den selbstangelegten Fesseln der Furcht befreit worden ist, wird der Mensch nicht mehr von dem engen Horizont seiner Sinne beschränkt sein, und die unbegrenzten Möglichkeiten wahrer Freiheit werden offenbar werden. Der Mensch wird sich beeilen, seinen rechtmäßigen Platz in dem ihm von Gott verliehenen Erbe einzunehmen und wird anfangen, die Wahrheit zu erkennen, daß es nur einen unendlichen Gott gibt. Dieser Gott „vereinigt,“ wie wir in Wissenschaft und Gesundheit lesen (S. 340), „Menschen und Völker; richtet die Brüderschaft der Menschen auf; beendet die Kriege; erfüllt die Schriftstelle:, Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst'; vernichtet heidnische und christliche Abgötterei — alles, was in sozialen, bürgerlichen, kriminalen, politischen und religiösen Gesetzen verkehrt ist; stellt die Geschlechter gleich; hebt den Fluch auf, der auf dem Menschen liegt, und läßt nichts übrig, was sündigen, leiden, was bestraft oder zerstört werden könnte.“
Der Gerechte muß viel leiden; aber der Herr hilft ihm aus dem allem. Er bewahret ihm alle seine Gebeine, daß deren nicht eins zerbrochen wird.— Psalm 34, 20. 21.
Darum siehe, daß Gott nicht verwirft die Frommen und erhält nicht die Hand der Boshaftigen.— Hiob 8, 20.