Die Worte „Liebe“ und „Furcht“ drücken Gegensätze aus. Aber erst wenn man einigermaßen ein Verständnis von der Christlichen Wissenschaft erlangt hat, fängt man an, diese Tatsache einzusehen. „Die göttliche Liebe ist das hohe Wunder für den menschlichen Sinn,“ sagt Mrs. Eddy auf Seite 560 von „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift.“ Ein weiter Ausblick eröffnet sich uns, wenn wir über diesen Ausspruch nachdenken. Selbst die menschliche Auffassung von Liebe, d. h. der wahrere menschliche Begriff, welcher der selbstlosen Liebe nahekommt, erscheint zuweilen fast wie ein Wunder. Selbst unter Freunden und Verwandten ist selbstlose Liebe keineswegs sehr all gemein. Romantische Liebe, die von Schriftstellern und Dichtern so beredt geschildert wird, ist nicht immer uneigennützig oder beständig. Wenn man sie im Lichte der Christlichen Wissenschaft prüft, findet man, daß sie oft tief in dem Irrtum wurzelt, den wir „Leben in der Materie“ nennen. Daher trägt sie die Elemente der Furcht in sich. Selbst menschliche Mutterliebe, die der selbstlosen und beständigen Liebe wohl am nächsten kommt, ist in manchen Fällen eher instinktiv als vernünftig, eher närrisch, töricht und furchtsam als intelligent, liebevoll und weise.
Weit mehr ist die Erde durch diejenigen gesegnet worden, die der menschlichen Liebe einen Strahl der göttlichen Liebe gebracht haben. So sehen wir in Victor Hugos „Les Miserables,“ wie erstaunt der elende Dieb über die Liebe und Verzeihung des guten Bischofs ist, als dieser ihm nach dem Diebstahl der Leuchter und dem Mißbrauch der erwiesenen Gastfreundschaft gegenübertritt. Die ganze menschliche Natur wird in gewissem Grade in dieser Schilderung vor Augen geführt; denn betrachtet nicht der sündige Gedanke solche selbstlose Liebe stets mißtrauisch und ungläubig? Sie scheint so etwas Wunderbares zu sein, daß man sie erst eine Zeitlang auf die Probe stellt, ehe man sie annimmt. Dennoch sehnt sich jedes Herz beständig nach ihr und sucht sie. Wer einmal solche Liebe gesehen oder gefunden hat, kann sie nie wieder vergessen. Der Mensch, der auf diese Weise aufrichtig und aus Gewohnheit liebt, beherrscht eine stumme Sprache, die man überall versteht, wo die Sonne auf- und untergeht, und die, wenn sie schließlich von dem zweifelnden Gedanken angenommen worden ist, dem müden Herzen der Menschheit stets so willkommen ist wie den welken Blumen die erfrischenden Regengüsse. Die Christliche Wissenschaft offenbart die herrliche Wahrheit, daß selbst der geringste Ausdruck wahrer Liebe die Wiederspiegelung der göttlichen Liebe sein muß, da Gott Liebe ist.
Was ist denn eigentlich Liebe? Woher kommt sie? Wir können sie auf verschiedene Weise definieren. Liebe ist wohltätig, Liebe ist weise, Liebe ist hingebend. Sie wäre nicht Liebe, wenn sie nicht auf alle Menschen und Dinge, mit denen sie in Berührung kommt, etwas von sich wiederspiegeln könnte. Ihre Tatkraft und Tätigkeit ist unerschöpflich, tut sich unaufhörlich kund, ist stets unvermindert, bleibt sich stets gleich. Wörterbücher können ihre Länge, ihre Breite oder ihren Umfang nicht definieren, noch können sie sie mit Worten hinreichend beschreiben; und doch kennt wohl das Kind Liebe besser als der Weise. Vogel, Tier und Blume, ja alles, was zu leben scheint, reagiert auf ihren mächtigen Einfluß. Wenn wir lieben, sagen wir, wir haben Gefallen an denen, die die Empfänger unserer Liebe sind. Wir bemühen uns, ihnen zu Diensten zu stehen und sie zu segnen, sie zu behüten und für sie zu sorgen, so weit es in unserer Macht steht. Wer sich in Gesellschaft derer befindet, die ihn lieben, hat keine Furcht, sondern empfindet Freude und Frieden und hat eine bestimmte und beständige Hoffnung auf immer mehr Gutes. Selbst Liebe nach menschlicher Auffassung treibt die Furcht aus, denn das müde Kind weiß nichts von Furcht, nachdem es den Hafen der Mutterliebe erreicht hat. Ein Freund fühlt sich unter liebevollen Freunden wohl, denn er weiß, daß sie ihm selbst seine Vergehen vergeben und seine Fehler verzeihen, ja daß sie ihn seines inneren Wertes wegen lieben, und daß liebevolle Vorkehrungen getroffen worden sind, um seinen Bedürfnissen abzuhelfen. Zu nennen ist ferner jene selbstlose Liebe, die der Mensch einer Sache oder einem Werk entgegenbringt, zu dessen Förderung er sich selbst und sein Leben einsetzt.
Alle diese Bekundungen der geheimnisvollen Kraft, die man Liebe nennt, tragen dazu bei, die Erde lichter und besser zu machen inmitten all des Aufruhrs, der von dem Gegenteil der Liebe, Furcht genannt, herrührt, die dann ihrerseits Neid, Habgier, Unehrlichkeit, Eifersucht, Bosheit, Haß hervorbringt — alles Folgen des Gedankens, der sich niemals mit Geben sondern stets nur mit Nehmen befaßt. Furcht lebt nur für sich, Liebe lebt für andere. Furcht greift nach allem und hält es fest, stiehlt offen oder heimlich von anderen, empfindet Unwillen beim Anblick des Besitzes anderer und ist überzeugt, daß es nicht genug für alle gibt. Ihre Methoden wirken notwendigerweise zerstörend; denn unter dem Bann ihrer wahnsinnigen Vorstellung, daß der einzige Weg zur Selbsterhaltung darin bestehe, alles zu vernichten, was der Erlangung des Gewünschten im Wege steht, tritt sie alles unter die Füße, zerreißt oder schiebt sie alles beiseite, ja richtet Verwüstungen an.
Das Leben in der Materie ist personifizierte Furcht, und wer kann Furcht definieren oder sie begreifen? Wir sehen in ihr das Element der Unintelligenz, sie bekundet sich in dem Kampf von Tieren um einen Knochen unwirklichen Vergnügens, in dem Essen von Brot, das nicht befriedigt, in der Betäubung durch Arzneimittel und Getränke, in dem Bestreben, das quälende Gewissen zu beschwichtigen. Wir sehen, wie sie sich ihrem eigenen rohen Gesetz der Fortpflanzung unterwirft, sei dieses auch noch so töricht und nutzlos. Die Annahme vom Leben in der Materie, die stets Furcht bedeutet, führt zu der Annahme vom Tod in der Materie und kämpft vom ersten Augenblicke ihres sogenannten Daseins an gegen den Tod. Die Regel und der Instinkt der ganzen Täuschung scheint Furcht zu sein, im Gegensatz zu jener Liebe, die das Gesetz des Lebens im Geiste ist.
Es ist daher kein Wunder, daß die Jünger erstaunt waren, als der weiseste Mensch, den die Welt je gekannt hat, ihnen sagte, die geistig Armen, die Leidtragenden, die Sanftmütigen, die nach Gerechtigkeit Hungernden und Dürstenden, die Verfolgten seien selig! Es überraschte und verwirrte sie, daß der große Meister alles umstieß, was man bisher im menschlichen Dasein für materiell gut gehalten hatte, bis sie sich von der Verwirrung der Unintelligenz abwandten und anfingen, die Ordnung und Harmonie der Intelligenz zu studieren, das Positive statt des Negativen allen Daseins, das Leben, welches Lieben bedeutet, weil es keine Furcht und keinen Grund zur Furcht kennt. Der Schöpfer, der Liebe ist, verleiht ja Seinen Geschöpfen nur Wohltaten, Er beschützt sie, bereitet alles Gute für sie vor und läßt ihnen allezeit unendliche Segnungen zuteil werden, weil Er nicht anders kann. Dies ist die Bedeutung des wunderbaren Ausspruches in der Heiligen Schrift: „Der Herr hat Wohlgefallen an seinen Werken.“
Liebe gibt und verleiht somit alles Gute. Empfängt und kennt der Gegenstand all dieser Wohltaten nicht seine Segnungen? Ist er nicht glücklich darin? Ganz gewiß, denn sonst würde der Zweck der Liebe völlig vereitelt. Das Kind der göttlichen Liebe, das sich des Glücks bewußt ist, ruht friedlicher als irgendein Menschenkind in dem Himmel der Mutterliebe. Das Kind der göttlichen Liebe teilt alles Gute mit anderen, und zwar ohne größere Anstrengung als die Blume macht, wenn sie ihre leuchtenden Farben zeigt oder ihren Duft in die sie umgebende Luft ausströmt. Sie tut es so natürlich wie ein Vogel seinen Frohsinn in die Welt hinausjubelt, so natürlich wie der Stern Gott durch sein reines Funkeln preist und nicht zögert, durch Wiederspiegelung alles zurückzugeben, was ewig in unauslöschlicher, unvergänglicher Lieblichkeit im göttlichen Gemüt enthalten ist. Wo Liebe beständig verleiht und verliehen wird, gibt es keine Furcht, noch kann sie je dort eindringen.