Emerson schrieb einst: „Jedermann sieht sich vor, daß ihn sein Nächster nicht betrüge. Doch der Tag kommt, wo er anfängt, sich zu hüten, daß er seinen Nächsten nicht betrüge. Dann geht alles gut. Er hat seinen Marktwagen in einen Sonnenwagen verwandelt”. Wie wahr es doch immer bleiben muß, daß man, sobald man sich vom Eigennutz zur selbstlosen Liebe gegen andere wendet, angefangen hat, sich über alles Gemeine und Niedrige in das geistige Reich zu erheben, wo das Gute allerhaben regiert und nur sein reiner Segen in Erscheinung treten kann! Wohl die meisten Menschen haben schon die Glückseligkeit erfahren, die die uneigennützige Rücksichtnahme auf andere bereitet. Dennoch scheint es ihnen schwer zu fallen, immer in sonnenbestrahlten Wagen zu fahren. Statt dessen klammern sie sich an jene auf schmutzbeladenen Rädern einherpolternden irdischen Fahrzeuge, und wundern sich dann wohl, warum sie nicht auf lieblichen und angenehmen Prachtstraßen fahren.
Unser Meister Christus Jesus lenkte die Aufmerksamkeit seiner Nachfolger stets auf das Glück hin, das denen zuteil wird, die vor ihrem eigenen Guten dasjenige ihres Nächsten suchen lernen. Er ging in der Tat so weit, daß er sagte, man könne nur dann groß sein, wenn man ein Diener sei, „gleichwie des Menschen Sohn ist nicht gekommen, daß er sich dienen lasse, sondern daß er diene und gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele”. Die Christliche Wissenschaft legt auf dieselbe Lehre Nachdruck und lenkt die Aufmerksamkeit ihrer Schüler beständig auf die Wünschenswürdigkeit des Hingebens aller Selbstsucht für die himmlische Art des Suchens des eigenen Guten in dem des Nächsten hin.
Und was für eine einfache Art dies ist! Und wie leicht auszuüben, wenn wir nur ihre Richtung einschlagen wollen! Gewiß ist ihr Lauf dem Lauf, dem die menschliche Art zu folgen geneigt ist, gerade entgegengesetzt; denn Selbstsucht ist bei allen ihren Neigungen stets erdwärts gerichtet, während Selbstlosigkeit auf dem ganzen Wege himmelwärts führt. Daher braucht man sich nicht einzubilden, man werde sich sehr schnell zu geistigen Höhen erheben, wenn man sich gestattet, zwischen Selbstsucht und Selbstlosigkeit hinund herzuschwanken. Man muß im Gegenteil den Pfad selbstloser Liebe einschlagen und beständig darauf wandeln, wenn man geistig vorwärtskommen will.
Welches sind einige der Merkzeichen, die den Weg der Selbstlosigkeit weisen helfen? Das erste und wichtigste unter ihnen muß das Verlangen sein, Gott als das eine und einzige Gemüt anzuerkennen. In „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” (S. 205) schreibt Mrs. Eddy, die geliebte Führerin der Christlichen Wissenschaft: „Wenn wir uns vergegenwärtigen, daß es nur ein Gemüt gibt, dann hat sich das göttliche Gesetz, unsern Nächsten zu lieben wie uns selbst, entfaltet; wohingegen die Annahme von vielen herrschenden Gemütern des Menschen natürlichen Zug zu dem einen Gemüt, dem einen Gott, hindert und den menschlichen Gedanken in entgegengesetzte Kanäle leitet, wo Selbstsucht regiert”. Wir müssen uns daher beständig fragen: Suche ich stets die Führung des einen Gemüts? Bin ich bestrebt, nur den Willen der göttlichen Liebe zu wissen? Dann und nur dann können wir die Schönheit der Selbstlosigkeit so verstehen, daß wir stets das Gute unseres Nächsten suchen.
Für den Christlichen Wissenschafter schließt dieses Sichunterwerfen unter die Herrschaft des göttlichen Gemüts Gehorsam gegen die goldene Regel unter allen Umständen in sich. Ein solch selbstloser Gehorsam läßt nie eine voreingenommene und einseitige Ansicht über irgend eine Frage zu, sondern fordert jene Vorurteilslosigkeit, die das Wahrheitslicht auf jede Frage richten läßt, bis Gerechtigkeit ganz von den Fesseln des menschlichen Sinnes frei regiert. Es bereitet einem Freude, es jedem Arbeiter zu überlassen, dem göttlichen Prinzip auf diejenige Art und Weise zu gehorchen, auf die er sich von Gott geführt fühlt, weil es jenen Glauben an die Allgegenwart und Allmacht des göttlichen Gemüts erzeugt, der weiß, daß ein Sinn des Falschen oder der Ungerechtigkeit nie gedeihen kann.
„Alles nun, was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch”. Hier sind die einfachen Worte, die unser Meister gebrauchte, um die Art und Weise zu erklären, wie wir das eigene Gute in dem unseres Nächsten suchen sollen. Hier haben wir das göttliche Gesetz, das, wenn vollständig im Sinne der Christlichen Wissenschaft verstanden und befolgt, die ganze Selbstsucht mit aller Bitterkeit und allem Groll, die aus ihr hervorgehen, beseitigt.
Unter einigen besonderen warnenden Bemerkungen, die unsere Führerin in dieser Richtung macht, nimmt der selbstlose Christliche Wissenschafter jene bereitwillig an, die auf Seite 156 in „Miscellaneous Writings” stehen, wo sie sagt: “Ich sah keinen Vorteil, sondern großen Nachteil darin, daß die Ansichten oder die Verfahrungsweise eines Schülers die Grundlage für andere wurden”; und sie fügt hinzu: „Sich versammeln und friedlich oder streitend einander anhören, ist für Schüler keine Hilfe beim Erwerben echter Christlicher Wissenschaft”. Auch werden diejenigen, die das eigene Gute in dem ihres Bruders suchen, nie ihres Bruders Gebiet betreten, vielmehr werden sie sich beeilen, die Ermahnung der Mrs. Eddy zu befolgen (S. 302, 303 dess. Buchs): „Ich empfehle, daß Schüler bei ihrer Arbeit für das Menschengeschlecht in ihrem eigenen Arbeitsfelde bleiben. Sie sind Lichter, die nicht verborgen werden können, und brauchen nur von ihrem Heimatgipfel aus zu leuchten, um als körperliche und sittliche Heiler gesucht und gefunden zu werden”.
Das Gute unseres Nächsten so suchen, wie es die Christliche Wissenschaft uns zeigt, schließt daher jene vollständige Selbstlosigkeit in sich, die nie das unabhängige Vorrecht unseres Nächsten antastet, sich — vom göttlichen Gemüt unmittelbar und einzeln geführt — in unsere Lehrbücher zu vertiefen und ihnen zu gehorchen. Bei dieser durch den selbstlosen Wunsch, seinen Nächsten Gott anzuvertrauen, gewonnenen Freiheit von falscher Verantwortlichkeit für das Ausüben der Christlichen Wissenschaft durch andere ist man nicht nur zu der herrlichen Tatsache erwacht, daß man hinfort sicher sein kann, daß einen „sein Nächster nie betrügen” kann, sondern man ist auch zu der beseligenden, weil unermeßlich befriedigenden, Gewißheit gekommen, daß man nie wieder versucht wird, „seinen Nächsten zu betrügen”. Auch hat man eingesehen, daß man dadurch, daß man das Gute seines Nächsten sucht, die vollkommene und vollständige Aufrichtung des eigenen Guten vollbringt; denn die eigene Liebe erweist sich in der Tat als die wahrhaftige Widerspiegelung der Liebe, die Gott ist.
