An dem schönen Dixflusse im Staate Kentucky wurde eine Riesenwasserkraftanlage hergestellt, die zum mindesten einen Schüler der Christlichen Wissenschaft sehr zum Nachdenken veranlaßte. An einer gewissen Stelle zwischen zwei senkrechten Felsabstürzen wurde eine Talsperre mit solch gewaltigen Ausmaßen gebaut, daß die erzeugte Wasserkraft für den gesamten Fabrikbetrieb nicht allein in Kentucky sondern auch in den benachbarten Staaten ausreicht.
Am Ende des zweiten Baujahres war diese Talsperre immer noch in der Ausführung begriffen, und das Ende der Herstellungsarbeiten war nicht abzusehen. Immer noch wurden unzählige Tonnen Felsund Kiesmassen durch Riesengreifbagger auf Rollkippwagen geladen und in das Flußbett gegen die schon von Ufer zu Ufer sich erstreckende große Betonmauer geschüttet. Während man den Betrieb von oben ansah und gewahr wurde, wie sich die Arbeiter mit ameisenartiger Emsigkeit in allen Richtungen bewegten, während man das unermeßliche Gewirr des Schienennetzes mit den unaufhörlich kommenden und gehenden Zügen bemerkte und sich vergegenwärtigte, wieviel nach zweijähriger unablässiger Arbeit noch zu tun war, wurde man von einem Gefühl der Größe des Unternehmens so überwältigt, daß man oft den Gedanken äußerte: „Was für ein entsetzlich langsamer Vorgang es doch ist!”
Einem, der sich betrübt und mühselig gerade an die Christliche Wissenschaft um Erleichterung wendet, kommt wohl gelegentlich derselbe Gedanke, wenn die ersehnte Befreiung von widerwärtigen Zuständen nicht so schnell, wie gehofft, einzutreten scheint. Während Ausüber und Hilfesucher schnelle Heilung erwarten sollten, sollte keiner von beiden den Mut sinken lassen, wenn sich die Heilung in einigen Fällen zu verzögern scheint. Das Wort Gottes ist gesprochen worden, und es ist heilend und segnend am Werk, selbst wenn das Sinnenzeugnis dies zu bestreiten sucht. Man muß sich unablässig an die Wahrheit klammern, fortfahren, alles, was man schon davon versteht, in die Tat umzusetzen, unaufhörlich für das schon empfangene Gute dankbar sein und sich entschieden weigern, auf Vorwände der Furcht, des Zweifels oder der Entmutigung zu hören, die, wenn es möglich wäre, gegen die ordnungsmäßige und aufbauende Fortdauer des Heilens kämpfen würden.
Auf Seite 425 in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” von Mary Baker Eddy lesen wir: „Das Bewußtsein baut einen besseren Körper auf, wenn der Glaube an die Materie besiegt worden ist”. Dieser Vorgang geistigen Bauens geht also genau in dem Maße weiter, wie wir unsern Glauben an die Wirklichkeit des Sinnlichen aufgeben. Während wir unsere Denkvorgänge von Tag zu Tag beobachten, sind wir vielleicht noch nicht imstande, in dieser Hinsicht eine merkliche Änderung in unserem Denken wahrzunehmen; aber ebensowenig konnten diejenigen, die am Bau der Dixtalsperre arbeiteten, von einem Sonnenaufgang zum andern viel Unterschied sehen. Wer die Baustelle z.B. an einem Montag und dann wieder am Dienstag besuchte, konnte überhaupt keine Veränderung wahrnehmen; auch nicht am Ende der Woche oder vielleicht gar am Ende des Monats hätte er eine merkliche Veränderung feststellen können. Und dennoch ging eine Veränderung andauernd vor sich. Die kleinen Kippwagen rollten beständig hin und zurück und leisteten Stunde für Stunde ihren winzigen Beitrag zu dem gewaltigen Mauerwerk, das langsam aber sicher den Fluß zum Stehen brachte.
Arbeit, die Wiederaufbau bedeutet, erfordert das, was der Apostel so treffend als „geduldiges Beharren im Gutestun” (engl. Bibel) bezeichnet, sei es das Dienstbarmachen eines reißenden Flusses oder das Bezähmen jener viel widerspenstigeren Dinge, der ungestümen Triebe und Leidenschaften im menschlichen Bewußtsein, die jemand vielleicht sein Leben lang zügelund hemmungslos in der Gewalt hatten. In Wissenschaft und Gesundheit (S. 77) schreibt Mrs. Eddy: „Der fromme Polykarp hat gesagt: ‚Ich kann mich nicht auf einmal vom Guten zum Bösen wenden‘. Ebensowenig vollbringen andre Sterbliche den Wandel vom Irrtum zur Wahrheit mit einem einzigen Sprung”. Der Dixfluß ist sozusagen nicht „mit einem einzigen Sprung” umgestaltet worden, um unzählige Kraftmaschinen zu treiben und Tausende von Rädern in surrende Bewegung zu setzen, zahllose dankbare Menschen mit neuer Beschäftigung zu versehen und bisher unfruchtbare und öde Gegenden wie die Rose knospen und erblühen zu lassen. Der Talsperrenbau bedeutete im Gegenteil beständige, ausdauernde, unablässige, unermüdliche Anstrengung der Arbeiter, jeden Tag ein wenig in der rechten Richtung, ohne Zeitverschwendung durch müßiges Betrachten seines vorübergehenden häßlichen Anblicks, ein Vorwärtsblicken zum vollendeten Bauwerk und ein Frohlocken über den stetigen Fortschritt der Arbeit.
Wenn es schon dies alles und noch viel mehr erfordert, eine Talsperre zu bauen, dürfte es dann nicht auch bei jedem einzelnen etwas Anstrengung erfordern, sein Denken neu aufzubauen oder wiederherzustellen? Dennoch verzweifle niemand, weil das Unternehmen zuerst riesenhaft scheint! Wenn schon ernste, ehrliche Anstrengung körperlicher Art sogar den Anblick der Natur ändert, kann dann etwas von sehr viel größere Wichtigkeit, nämlich der sogenannte menschliche Körper oder ein Teil davon, nicht durch eine ebenso ernste und ehrliche Anstrengung in geistiger Weise durch rechtes Denken geändert und neu gebildet werden? In demselben Verhältnis, wie wir ein volleres Verständnis der rechten Ideen, aus denen der wirkliche Mensch besteht, gewinnen, d.h. wie sie sich jeden Tag für uns wirklicher und befriedigender gestalten, wird diese irrige Annahme, die wir so lange für unsern Körper hielten, aufhören, Herrschaft über uns zu haben oder das Maß unseres Glücks oder Unglücks zu bestimmen.
Das Schönste von allem ist, daß diese Umwandlung jetzt, gerade in diesem Augenblick, wo diese Zeilen gelesen werden, vor sich geht. Wir haben die Arbeit nicht in Gang zu bringen, wir brauchen sie nur ihren Gang gehen zu lassen. Wir brauchen nur zu wissen, daß der Tätigkeit des Guten, dem Gesetz Gottes, die eigene Kraft und der eigene Antrieb innewohnen. Warum dann nicht alle unsere Zweifel, Befürchtungen, Qualen und Unruhen, alle unsere falschen Ansichten und Lehren, unsere vorgefaßten Meinungen, unsern Stolz, unser Vorurteil und unsern menschlichen Eigensinn zum Schweigen bringen und zusehen, wie die Wahrheit zu unseren Gunsten waltet? Während der Geist uns von neuem gestaltet, liegt es uns ob, unsere kleinen Rollwagen und unsere Greifbagger in Gang zu erhalten und jeder Bedrängnis des Irrtums wie einst Nehemia mit den Worten entgegenzutreten: „Warum soll das Werk stille stehen, wenn ich es ruhen lasse und zu euch hinabkomme?” (engl. Bibel).
Stein auf Stein wurde die Dixtalsperre gebaut, und durch „Vorschrift auf Vorschrift, Regel auf Regel” (engl. Bibel) wird eine menschliche Sinnesart gebaut, deren Bestand rechten Denkens jeden Tag zunimmt. Dieser Vorgang scheint zuerst wohl mühsam zu sein, so fest ist der Glaube an das Sinnliche mit den ihn begleitenden Leiden in das sogenannte sterbliche Gemüt eingewurzelt. Aber er kann sich vollziehen; denn die Christliche Wissenschaft verlangt von niemand etwas Unmögliches. Niemand sei daher entmutigt! Die äußerliche und sichtbare Kundwerdung eines umgewandelten Bewußtseins, wie sie durch einen harmonischeren Körper zum Ausdruck kommt, wird sicher in Erscheinung treten, wenn wir sie mit unseren menschlichen Augen auch jetzt noch nicht sehen können. Daß sich der ruhige, liebliche, erlösende Vorgang in unserer Gedankenwohnung bereits vollzieht, ist eine göttliche und unwiderstehliche Tatsache. Werden wir daher im Gutestun nicht müde, so werden wir die vollständige Ernte unserer Hoffnungen gewiß sehen; denn „Wissenschaft wie Bewußtsein sind”, wie Mrs. Eddy erklärt (Wissenschaft und Gesundheit, S. 423), „nun in dem Haushalt des Seins an der Arbeit, dem Gesetz des Gemüts zufolge, das seine absolute Überlegenheit schließlich behauptet”.