Im Neuen Testament wird das Gebot, unsern Nächsten wie uns selber zu lieben, als das wichtigste nach demjenigen genannt, das fordert, Gott über alles zu lieben. Und in der Christlichen Wissenschaft lernen wir, daß wir, wenn wir Gott über alles lieben, nicht umhin können, unsern Nächsten zu lieben, da Gott, unser Vater-Mutter, von Seinen Kindern untrennbar ist,— das göttliche Prinzip, Liebe, ist untrennbar von seinen Ideen. Im christlich-wissenschaftlichen Lehrbuch „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” (S. 88) sagt Mrs. Eddy: „Seinen Nächsten lieben wie sich selbst, ist eine göttliche Idee; aber diese Idee kann niemals durch die physischen Sinne gesehen, gefühlt oder verstanden werden”.
Um die göttliche Idee der Nächstenliebe wahrzunehmen, muß Gott als das einzige Gemüt erkannt werden, und zu dieser Wahrnehmung gelangt man nur durch geistige Erziehung oder Entfaltung. Man sollte bereit sein, auf Weltlichkeit, auf trügerische und vergängliche irdische Begierden und Freuden zu verzichten, ihre Scheinmacht zu vernichten, und so die Unwirklichkeit körperlicher und seelischer Leiden zu beweisen. Der Psalmist sagte: „Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von welchen mir Hilfe kommt”. Auch wir sollten nach dem Guten und Wahren trachten, nach der Liebe, die „nicht das Ihre suchet”. Wenn dann die Unfehlbarkeit des göttlichen Prinzips, der Liebe, die „dir alle deine Sünden vergibt und heilet alle deine Gebrechen”, geoffenbart ist, sollte dann nicht das Herz von Dankbarkeit überströmen? Und sollten wir nicht alles daransetzen, mit der Liebe, mit der wir geliebt werden, der Menschheit aus dem begrenzenden Sinn der Unwissenheit und der Furcht herauszuhelfen?
Wir kämen der göttlichen Forderung, unsern Nächsten wie uns selber zu lieben, gewiß nicht nach, wenn wir unser Verständnis des göttlichen Prinzips, Gottes, nur auf die Lösung unserer eigenen Aufgaben beschränkten. Denn dann würden wir ja das eine Gemüt weder als allgegenwärtig noch als unendlich erkennen, und unsere Fähigkeit, Gott, das Gute, zu beweisen, würde sich verringern. Wohl keiner der unmittelbaren Nachfolger Jesu hatte einen so ausgeprägten Sinn der Brüderlichkeit wie der geliebte Jünger Johannes. Er war von der Liebe zu Gott dem Vater und den Menschen durchdrungen. In seinem Evangelium beschreibt Johannes das Leben und Wirken unseres Meisters und die Art und Weise, wie die endgültige Erlösung zustande kommt. Und in seinen Briefen mahnt er die Nachfolger Christi Jesu, das Erlösungswerk im Geiste liebevollen Denkens und Handelns fortzusetzen. Seine selbstlose Liebe gipfelte in der Offenbarung, wo er schildert, wie die alles besiegende Liebe das Böse, den alles Weltliche in sich schließenden Irrtum, vernichtet.
Durch ihre klare Erkenntnis Gottes als die Liebe hat in unserem Zeitalter unsere Führerin die Menschheit in den Stand gesetzt, das durch Jesus veranschaulichte Erlösungswerk wieder aufzunehmen. Auf Seite 496 von Wissenschaft und Gesundheit schreibt sie: „Du wirst begreifen lernen, daß es in der Christlichen Wissenschaft die erste Pflicht ist, Gott zu gehorchen, ein Gemüt zu haben und den Nächsten zu lieben wie dich selbst”. Wir lieben unsern Nächsten, wenn wir unsern Teil zu der Welterlösung dadurch beitragen, daß wir die Allheit Gottes, des Guten, behaupten und die Annahmen, woraus der fleischliche Sinn oder das Fleisch besteht, von Grund aus leugnen. Dies ist die geistige Erziehung, die die Christliche Wissenschaft heute durch Liebe vollbringt,— eine Erziehung, die zur Geistigkeit erzieht. Die Christliche Wissenschaft rüttelt die Menschen aus dem Irrtum der Unwissenheit und dem Glauben an die Wirklichkeit des Stoffs auf zu der klaren Erkenntnis Gottes, des Geistes, und mit dem Verständnis der Gotteskindschaft des wirklichen Menschen wächst auch das Verständnis der wahren Brüderlichkeit. Selbst in Weltangelegenheiten kann man sehen, daß ein Mensch zugleich dem Allgemeinwohl den größten Dienst leistet, wenn er sich für seine höchste Vorstellung einsetzt.
Die Aufforderung an die Kinder Israel im 5. Buch Mose kann in geistigem Sinne auch auf die Christlichen Wissenschafter angewandt werden: „Höre, Israel, du wirst heute über den Jordan gehen, daß du hineinkommest, einzunehmen das Land der Völker, die größer und stärker sind denn du, große Städte, vermauert bis in den Himmel. ... So sollst du wissen heute, daß der Herr, dein Gott, geht vor dir her, ein verzehrend Feuer. Er wird sie vertilgen und wird sie unterwerfen vor dir her, und du wirst sie vertreiben und umbringen bald, wie dir der Herr geredet hat”. Und wir lesen die weitere Ermahnung: „Wenn nun der Herr, dein Gott, sie ausgestoßen hat vor dir her, so sprich nicht in deinem Herzen: Der Herr hat mich hereingeführt, dies Land einzunehmen, um meiner Gerechtigkeit willen”. Die Zerstörung des Irrtums und die Aufrichtung des Reiches Gottes auf Erden ist nicht unser persönliches Verdienst; denn die Liebe ist das göttliche Prinzip, das alle sich zunutze machen können.
