Die Verfasserin dieser Betrachtung hatte das erfreuliche Vorrecht, längere Zeit für die Lesezimmer zweier weit auseinander gelegenen Zweigkirchen zu arbeiten. Die Verhältnisse waren in den beiden Gegenden verschieden; aber beide Lesezimmer hatten etwas äußerst Wertvolles und Wichtiges gemeinsam, nämlich ein großes Fenster im Erdgeschoß. Wie weitreichend und fortwirkend die durch ein solches Fenster bewirkte stille, unpersönliche Heilarbeit ist, läßt sich nicht leicht abschätzen. Stunde für Stunde bietet es den Vorübergedenden, vielleicht auf einem Ständer oder Gestell in bequemer Höhe zum Lesen, aufgeschlagen die Bibel, „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” von Mary Baker Eddy, die anderen Schriften unserer Führerin und die verschiedenen christlich-wissenschaftlichen Zeitschriften dar.
Einer Mitarbeiterin im Lesezimmer schien das Fenster zu versinnbildlichen, wie die Christus-Wissenschaft die Wege und Seitenwege des menschlichen Lebens mit all seinem Leiden, seinem Aufruhr und seiner Unruhe betritt und mit weit ausgestreckten Armen liebevoll einladet: „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken”. In jahrelangem Dienste sah sie viele stehenbleiben, um zu lesen und dieser Aufforderung zu folgen, und sie war Zeuge vielen Erfolgs, den diese reine, unpersönliche Art Kirchenarbeit bewirkt.
Selten verstrich eine Stunde am Tage, wo nicht jemand stehen blieb, um zu lesen. Ein über dem Laden auf der andern Seite der Straße wohnender junger Mann beobachtete, daß selbst in den Mitternachtstunden manche auf das durch eine helle Straßenlampe beleuchtete Fenster aufmerksam wurden. Schutzleute, Straßenkehrer, spät vom Geschäft oder vom Zug Heimkehrende, sogar vielbeschäftigte Zeitungsleute, die von der Nachtarbeit nach Hause eilten, hatte man stehenbleiben sehen, und oft lasen sie alles, was sie von dem im Fenster Ausgelegten lesen konnten. Einer kam wochenlang um Mitternacht, um zu lesen, und schließlich beauftragte er einen Jungen, ihm das Lehrbuch Wissenschaft und Gesundheit zu kaufen.
Eine auf der Straße verkaufende Blumenhändlerin betrat eines Tages schüchtern das Lesezimmer. Nach einiger Aufmunterung erzählte sie, sie komme schon monatelang jeden Tag ans Fenster, um zu lesen, und die dort ausgelegten Bücher seien ihre einzige Hilfe und Hoffnung gewesen. Sie sei als unheilbar aus dem Krankenhaus entlassen worden und leide große Seelenangst. Allmählich sei in ihr, als sie Seiten aus Wissenschaft und Gesundheit, die liebevollen Verheißungen in der Bibel und die Aufsätze und Zeugnisse in den Zeitschriften gelesen habe, eine schwache Hoffnung aufgedämmert; und nun habe sie es gewagt, hereinzukommen und zu fragen: „Ist das wahr, was diese Bücher sagen?” Ihr dreimonatiges Lesen am Fenster hatte ihr Denken so vorbereitet, daß sie für eine kurze Erklärung des Wesens Gottes und unserer Beziehung zu Ihm als Seine teuren Kinder sofort empfänglich war. Am nächsten Tage kam sie wieder, beflissen, noch mehr von Gott, der die unendliche Liebe, das immer gegenwärtige Gute ist, zu lernen und zu sagen, daß sie nach vielen beschwerlichen Monaten in der vergangenen Nacht zum erstenmal schmerzlos und ruhig geschlafen habe. Ihr entlehntes Lehrbuch Wissenschaft und Gesundheit wurde ihr so teuer, daß sie mit kleinen wöchentlichen Abschlagszahlungen ein gebrauchtes Buch kaufte und begann, verschiedene Beweise der Heilkraft der Wahrheit zu erbringen.
Eine andere, eine Scheuerfrau, die auf ihrem Wege zur Arbeit stehenblieb, um eine Botschaft für den Tag zu empfangen, las eine Zeitlang täglich am Fenster, ehe sie das Lesezimmer besuchte.
Eines Tages wurde ein hilfreiches Gedicht mit dem ernsten Gebet, daß es jemandes Bedürfnis befriedigen möge, im Fenster ausgelegt. Im Laufe der Woche kamen fünf Fremde herein, um es zu kaufen. In der Woche darauf kam noch jemand und sagte, sie habe am ersten Tage, als sie das Gedicht gesehen habe, einen Vers davon auswendig gelernt und sei am Tage darauf über 1½ km von ihrer Wohnung zu Fuß gekommen, um den übrigen Teil des Gedichtes zu lernen, da sie im Augenblick kein Geld hatte, es zu kaufen. Nun hatte sie den kleinen Betrag beisammen, und dies war für sie der Anfang weiterer Beweise, da Gott, die göttliche Liebe, Seinen Kindern nichts Gutes vorenthält.
Mehrere Jahre nach Beendigung des Weltkrieges kam ein älterer Mann mit abgehärmtem Gesicht in das Lesezimmer, um eine Zeitlang zu lesen. Beim Weggehen erzählte er, wie sein einst blühendes Geschäft während des Krieges zusammenbrach, da alle seine Gehilfen zum Heeresdienste eingezogen wurden, und er schließlich heimatlos, krank und fast mittellos wurde, bis jemand, der ihn in besseren Tagen kannte, eine kleine Beschäftigung in diesem Landstädtchen für ihn fand. „Ihr Fenster”, sagte er, „ist mein großer Trost gewesen. So oft ich mich verlassen und elend fühle oder besorgt und beunruhigt bin, komme ich hierher und lese; und stets habe ich etwas gefunden, was meine Hoffnung und mein Gottvertrauen neubelebt hat”.
Außer solchen Beispielen erhebenden Wirkens des Fensters könnte man von Handelsreisenden und Geschäftsleuten erzählen, die während ihres Aufenthaltes in der Stadt ins Lesezimmer kommen und das Buch oder die Zeitschrift, auf die sie im Fenster aufmerksam werden, kaufen, oder sich Adressen von Lesezimmern in ihrer Heimat geben lassen, wo sie mehr von der Christlichen Wissenschaft erfahren können. Unter anderen sind Schulknaben auf den Christian Science Monitor aufmerksam geworden und ins Lesezimmer gekommen, um eine Nummer zu kaufen, die einen Aufsatz enthielt, der ihnen beim Abfassen ihrer Aufsätze vielleicht von Nutzen sein konnte. Immer wieder sind Männer und Frauen hereingekommen, die vielleicht nie in ein christlich-wissenschaftliches Lesezimmer gekommen wären, wenn nicht das, was sie im Fenster gelesen hatten, ihr Interesse erweckt und ihre Vorurteile erschüttert hätte. So tut die Literatur im Fenster fast unaufhörlich ihre stille Missionsarbeit der Aufklärung des öffentlichen Denkens oder der Heilung von falschen Vorstellungen von der Christlichen Wissenschaft.
Eine Mitarbeiterin im Lesezimmer sah eines Nachmittags zwei Frauen am Fenster stehen. Die jüngere las laut: „Was unsere Führerin sagt”, jene herrliche Botschaft von Mrs. Eddy auf Seite 210 in „The First Church of Christ, Scientist, and Miscellany”, die beginnt: „Geliebte Christliche Wissenschafter, haltet euer Gemüt so von der Wahrheit und der Liebe erfüllt, daß Sünde, Krankheit und Tod nicht eindringen können”. Als sie aufhörte, bemerkte die andere: „Nun, mögen die Leute sagen, was sie wollen, das enthält nur Gutes!” Die Heilung feindseligen Denkens hatte begonnen; das Lesezimmerfenster war wieder einmal der stille, unpersönliche Kanal gewesen, durch den die Wahrheit gesprochen hatte.
