Markus berichtet, daß Jesus und seine Jünger kurz nach der Speisung der Fünftausend und dann der Viertausend „wiederum in das Schiff traten und herüberfuhren”. Sofort bot sich den Jüngern Gelegenheit, ihr Verständnis auf eine ähnliche Lage anzuwenden; denn „sie hatten vergessen, Brot mit sich zu nehmen, und hatten nicht mehr mit sich im Schiff denn ein Brot”.
Aber offenbar hatten sie den Kernpunkt der ihnen kurz vorher gegebenen Lehre und Veranschaulichung des göttlichen Versorgungsgesetzes nicht erfaßt; denn von ihrem Gesichtspunkt aus war nur ein Brot vorhanden, was für so viele unzureichend schien. Sie überlegten miteinander und sprachen über ihren Brotmangel, nachdem ihr Meister sie „vor dem Sauerteig der Pharisäer und vor dem Sauerteig des Herodes” gewarnt hatte. Dann erinnerte sie Jesus an die Speisung der Tausende: „Was bekümmert ihr euch doch, daß ihr nicht Brot habt? Vernehmt ihr noch nichts und seid noch nicht verständig? ... Ihr habt Augen, und sehet nicht, und habt Ohren, und höret nicht, und denket nicht daran. ... Wie, vernehmet ihr denn nichts?”
Was nach ihrer Ankunft in Bethsaida geschah, war unmittelbar nach dieser wohlverdienten Zurechtweisung ihrer Kurzsichtigkeit und Schwerhörigkeit so treffend, daß es geradezu ein Teil jener Rüge zu sein schien. Ein Blinder wurde sogleich zur Heilung zu Christus Jesus gebracht. Markus schreibt: „Und er nahm den Blinden bei der Hand und führte ihn hinaus vor den Flecken”. Daraufhin „hieß” Jesus „ihn sehen; und er ward wieder zurechtgebracht, daß er alles scharf sehen konnte”.
Diese beiden Begebenheiten veranschaulichen überzeugend die Beziehung zwischen der Heilung geistiger und sogenannter körperlicher Blindheit, die beide durch die göttliche Wahrheit ausgetrieben oder geheilt werden, und ebenso die Vollständigkeit der Heilung; denn „er konnte alles scharf sehen”. Jesus hieß ihn auf Gott, den Schöpfer und Erhalter des Menschen, „sehen”. Wenn die zur Heilung jeder Lage erforderliche Wahrheit erkannt wird, verschwindet der mit den Umständen verflochtene Irrtum oder Mangel; denn der Irrtum kann sich vor geistigem Verständnis so wenig behaupten wie Finsternis im hellen Licht.
In allen ihren Schriften lenkt unsere verehrte Führerin Mary Baker Eddy unser Denken beständig auf Gott hin. Auch wir müssen den Scharfsinn erlangen, der jeden Menschen als das sieht, was er ist: als Sohn unseres Vater-Mutter-Gottes. Viele unserer Weggenossen mögen sich des geistigen Wesens des Menschen nicht bewußt sein und daher zuweilen nicht wie Söhne und Töchter Gottes handeln. Dennoch müssen wir „alles scharf sehen”; denn alles, was Gott, der Wahrheit, unähnlich ist, gleicht nur dem Staub auf einem Standbild. Der Staub kann die Züge und Umrisse des Standbildes zum Teil verbergen, so daß ein gründliches Abstäuben und Reinigen notwendig wird; aber es braucht nicht neu gegossen oder gemeißelt zu werden. Wenn wir diesen Staub zu entfernen suchen, dürfen wir uns wohl Shakespeares Rat ins Gedächtnis rufen, „den Fehler, nicht den Fehlenden zu verdammen”. Bei manchen Menschen scheint es leicht, sie klar als Ideen Gottes zu sehen; denn sie bringen viel zum Ausdruck, was uns anspricht. Bei anderen dagegen denken wir, es sei doch ein wenig zu viel verlangt! Trotzdem bringt nur die Weigerung, die Vorstellung anzunehmen, daß der Mensch materiell sei, und das Sehen, wie das Gemüt oder Gott sieht, uns selber die Verwirklichung unserer herrlichen Freiheit.
Licht ist unentbehrlich, um schaft zu sehen. Mrs. Eddy schreibt auf Seite 504 in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift”: „Wenn sich die Strahlen der unendlichen Wahrheit im Brennpunkt der Ideen sammeln, dann bringen sie augenblicklich Licht, wohingegen tausend Jahre menschlicher Lehren, Hypothesen und vager Mutmaßungen solchen Glanz nicht ausstrahlen”. Wir haben vielleicht an liebgewonnenen „menschlichen Lehren” oder „vagen Mutmaßungen” über ererbte Anlagen, Alter oder Fähigkeiten festgehalten. Vielleicht sind diese Gedanken so sehr ein Teil unserer Ansichten geworden, daß wir sie nicht einmal als das erkannt haben, was sie sind. Aber keine in den Namen Erblichkeit, Zeit oder Überanstrengung gekleidete Gesetzesannahme kann die Tatsache ändern, daß das Sehen geistig ist. Und weil es geistig ist, bedarf es keiner Berichtigung.
Wir dürfen nicht vergessen, daß „ein hörend Ohr und sehend Auge beide der Herr macht”. Es ist hilfreich, sich diese Heilung des Blinden von Bethsaida ins Gedächtnis zu rufen; denn ihm tat wie den Jüngern nicht eine Änderung des Materiellen sondern geistige Wahrnehmung sehr not. Unsere Führerin schreibt (Wissenschaft und Gesundheit, S. 479): „Ein auf der Netzhaut widergespiegeltes Bild des sterblichen Gedankens ist alles, was das Auge erblickt. Die Materie kann nicht sehen”.
In der Christlichen Wissenschaft können wir eine Lage nicht erzwingen, noch versuchen wir, es zu tun. Der Hickory entfaltet bekanntlich sein lichtes junges Grün viel später, als die Trauerweide ihr anmutiges Frühlingskleid anlegt. Aber ohne das geringste Bedenken, ohne Vergleich oder Selbstherabwürdigung entfaltet sich jedes Blatt am Hickory ebenso sicher wie an der Weide, wenn auch langsamer. So wird es uns klar, wie unmöglich es ist, unsern Beweis zu erzwingen, solange unser Denken für eine höhere Erkenntnis oder Heilung nicht vorbereitet und offen ist. Während vielleicht der März für die Weide recht war, wurde es für den Hickory erst im Mai warm genug. Gleichen wir also vorübergehend anscheinend einem Hickory im März, so wollen wir den einen gewiß nachahmenswerten Punkt nicht übersehen, daß der Hickory, obwohl er hoffnungslos kahl aussah, trotzdem, wenn auch unsichtbar, stetig und stündlich Fortschritt machte, bis der Augenblick kam, wo jedes Blättchen bereit war, die grauen Zweige mit frischem Laub zu bedecken. So mag auch das Beweisen geistigen Unterscheidens nicht die Arbeit eines Augenblicks sein; aber wir sollten täglich hingebungsvoll die Reinheit beweisen, die Gott, das Gute, sieht.
Vielleicht ist unsere Erkenntnis des geistigen Unterscheidens noch nicht klar genug, oder hat unser Denken die Vollkommenheit Gottes, der Wahrheit, noch nicht so erschaut, daß wir wie der Meister allen Mißklang sofort heilen; aber wir können für die geistige Wahrheit dankbar sein, daß wir jederzeit die Fähigkeit haben, Gott oder das Gute widerzuspiegeln, und daß wir durch dieses Unterscheiden „alles scharf sehen” können.