Im Briefe an die Hebräer lesen wir: „Lasset uns untereinander unser selbst wahrnehmen mit Reizen zur Liebe”. Das ist eine Ermahnung, alles, was einem möglich ist, zu tun, um einander zu helfen, das wahre Christentum zu betätigen, und nichts zu tun, um einander am geistigen Vorwärtskommen zu hindern.
Man kann Wohl sagen, daß die ganze Betätigung der Christlichen Wissenschaft auf Liebe zu Gott und Liebe gegeneinander beruht. Nehmen nicht alle, die ihre Lehre anwenden, beständig Rücksicht auf andere, und reizen sie nicht zur Liebe an? Diese Liebe ist keineswegs eine untätige Eigenschaft; sie fordert beständige Wachsamkeit, daß man nichts sagt oder tut, was einem andern zum Hindernis werden könnte.
Mrs. Eddy schreibt in „The First Church of Christ, Scientist, and Miscellany” (S. 258): „Nur eine bescheidene Darbietung verdient den Namen Religion — Liebe”. Von was für einer selbstlosen Liebe sie erfüllt gewesen sein muß, daß sie trotz aller erduldeten Verfolgung und Ungerechtigkeit weiter arbeitete, um ihre Entdeckung, die Christliche Wissenschaft, der Welt zu geben! Wir sollten unsere Dankbarkeit für ihre vorbildliche Liebe zu der ganzen Menschheit dadurch zeigen, daß wir diese Liebe anderen gegenüber ausdrücken. Nur im Verhältnis unserer Liebe zu anderen erfüllen wir das Gebot, „zur Liebe anzureizen”. Die geistige Auslegung, die Mrs. Eddy einer Bitte im Gebet des Herrn gibt, lautet: „Liebe spiegelt sich in Liebe wider” (Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift, S. 17).
Wenn uns Weisheit gebietet, jemand auf eine sündige Annahme aufmerksam zu machen, damit sie durch die Wahrheit vernichtet werde, zögern wir oft, es zu tun. Es scheint manchmal leichter, zu schweigen, wenn ein Freund oder ein Angehöriger fortfährt, unrecht zu tun, als Gefahr zu laufen, ihn durch Aufdecken des Irrtums, damit er ihn selber einsehen kann, zu beleidigen oder zu verletzen. Ist das aber immer liebevoll gehandelt? Jesus muß Petrus innig geliebt haben; dennoch hielt er nicht mit der nötigen Zurechtweisung zurück, als Petrus sich von falschen Annahmen täuschen ließ. Dieses Berichtigen des Irrtums veranlaßte Petrus gewiß nicht, Jesus weniger zu lieben, und es stärkte ihn geistig. Indem wir jemand auf seine Mängel aufmerksam machen, um ihm zu helfen, sollten wir sicher sein, daß wir uns nur vom göttlichen Gemüt leiten lassen, und daß Liebe uns veranlaßt, den Irrtum aufzudecken; denn nur in dieser Weise sehen alle in Betracht kommenden den Irrtum als unpersönlich, und gute Ergebnisse werden die Folge sein.
Wenn jemand nur aus Schüchternheit oder einer andern Furchtsamkeit eine schroffe Erwiderung unterdrückt, braucht er sich nicht zu beglückwünschen, daß er unserem Meister in der von ihm gelehrten Weise nachgefolgt sei; denn er hat das Gesetz nur dann erfüllt, wenn er das Gebot befolgt: „Die Liebe sei nicht falsch”. Er muß ohne Unterlaß lieben, muß sich und seine Mitmenschen in Wirklichkeit als auf dem Gipfel der Vollkommenheit weilend sehen, nur die Eigenschaften der Liebe widerspiegelnd, worin Haß, Bitterkeit, Rache — Eigenschaften des sterblichen Gemüts — keinen Halt haben.
Jakob war von Furcht erfüllt, als er erfuhr, daß sein Bruder Esau, dem er Unrecht getan hatte, ihm mit 400 Mann entgegenzog. Er rang die ganze Nacht hindurch mit dem Irrtum, bis die irrige Furchteinflüsterung vertrieben war. Als das Licht der Wahrheit über ihm dämmerte, sagte er: „Ich habe Gott von Angesicht gesehen, und meine Seele ist genesen”. Und als er am Morgen seinem Bruder Esau begegnete, begrüßten sie sich in brüderlicher Liebe und mit großer Freude, und Jakob sagte zu Esau: „Ich sah dein Angesicht, als sähe ich Gottes Angesicht”. Wie ganz anders hätte die Begegnung ausfallen können, wenn Jakob der Furchteinflüsterung Gehör geschenkt hätte und nur einen erzürnten, rachsüchtigen Sterblichen ihm hätte entgegenkommen sehen!
Wenn alle Menschen einigermaßen lernten, „zur Liebe anzureizen”, würden die Völker der Welt wahre Brüderlichkeit gegen alle Rassen empfinden. Es gäbe keine Eifersucht, keinen Groll, keinen Haß und keine andere Erscheinungsform des sterblichen Gemüts, die in unmenschlichem Krieg zum Ausdruck kommen könnte. Es ist Pflicht jedes Christlichen Wissenschafters, zu wissen, daß die ganze Menschheit diese Liebe jetzt und hier auf Erden bekunden kann, weil in Wirklichkeit alle Ideen Gottes mitteilen, was sie von Ihm widerspiegeln, und Gott ist die Liebe.
