Menschen, die gemeinsam lange in derselben Richtung blicken, können sich nicht fremd bleiben. Diese Selbstverständlichkeit wird oft durch einander unbekannte Reisende veranschaulicht, die bei gemeinsamer Betrachtung einer schönen Gegend oder eines Punkts von geschichtlicher Bedeutung ein Gespräch miteinander anknüpfen und sich befreunden. Ferner kommen die Menschen leicht auf brüderliche Art einander näher, wenn eine Notlage selbstloses Handeln fordert oder wenn die Erwägung eines guten Zwecks den Menschen Gelegenheit bietet, einmütig zu sein.
Daß manchmal persönliche Beziehungen gelöst werden, kann also auf Mangel an gemeinsamen Neigungen und Bestrebungen zurückzuführen sein. In solchen Fällen gibt es wie bei Straßen, die zusammenlaufen und sich kreuzen, kein dauerndes Zusammengehen. Wer auf seinem Wege sein Antlitz dem Licht zukehrt, kann nicht mit jemand gehen, der den Rückweg antritt. Solche Beobachtungen veranschaulichen eine offensichtliche Wahrheit; und ein weiteres Beispiel liefert uns Mary Baker Eddy in „Rückblick und Einblick” mit den Worten (S. 76): „Die Geistiggesinnten treffen sich auf den Stufen, die zur geistigen Liebe hinanführen”.
Die Christliche Wissenschaft fördert Freundschaft und Kameradschaft, weil sie ihre Schüler lehrt, in derselben Richtung, nämlich auf Gott, zu blicken. Wo menschliche Brennpunkte versagen, bleibt dieser eine bestehen, da Gott, das unendlich Gute, unwandelbar und ewig ist, Jesus sagte zu seinen Jüngern: „Und wenn ich hingehe, euch die Stätte zu bereiten, so will ich wiederkommen und euch zu mir nehmen, auf daß ihr seid, wo ich bin”. Und er sagte auch: „Ich gehe zum Vater”. Wie natürlich es doch ist, daß alle, die sich bewußt bemühen, zum Vater zu gehen, geistig zu denken, sich auf diesem erhabenen Wege begegnen! Wie Fremde, die selbstvergessen die Farbenpracht eines Sonnenuntergangs betrachten, sich verwandt fühlen, so empfinden Wallfahrer zum Geist Gemeinschaft, wenn sie die geoffenbarten Herrlichkeiten Gottes miteinander betrachten.
Die Grundlage und das Wesen dieser Einigkeit ist die geistige Tatsache, daß Gott der Vater-Mutter, das Leben, das Gemüt und die Seele alles Wirklichen ist. Gottes Kinder sind auf ewig vereinigt, weil sie einen Urheber und einen Daseinsgrund haben: Gott. Gerade wie die Zahlen, so viele es auch sein mögen, von einem Gesetz regiert werden, so haben die unendlichen Formen der Schöpfung Gottes einen Ursprung und ein Gesetz. Das bedeutet die bleibende Einheit, die Unteilbarkeit des geistigen oder wirklichen Seins. Es ist hilfreich, in diesem Zusammenhang zu sehen, daß vernünftiges und geistiges Denken die hier dargelegten Wahrheiten immer bestätigt, und daß nur ein stets veränderlicher und unzuverlässiger materieller Sinn der Dinge sie verneint.
Beim Beweisen geistiger Einheit stimmt also der Schüler der Christlichen Wissenschaft nie dem materiellen Zeugnis zu. Er blickt nur in einer Richtung — unverwandt nach Gott. Warum? Weil es sein Denken erhebt und ihn dem Göttlichen näher bringt. Da gleiche Eigenschaften sich naturgemäß zusammenfinden, wird ihm klar, daß Gottesnähe die Nähe alles dessen bedeutet, was gut, geistig und menschlich wünschenswert ist. Aus diesem Grunde sind rechte menschliche Beziehungen die natürliche Folge geistigen Denkens.
Wenn wir sehen, daß unsere Beziehungen auf die Beschaffenheit unseres Denkens schließen lassen, werden wir unsere Gelegenheiten, nachbarlich zu sein, besser würdigen. Das erfordert keine mühsame Anstrengung, sondern nur andachtsvolles, ernstes Trachten, immer in Übereinstimmung mit dem Verständnis zu denken, daß Gott die allmächtige, immergegenwärtige Liebe und der Mensch Sein Ebenbild ist. Ein solches Streben gibt uns nicht nur den rechten Sinn von Freundschaft, sondern trägt auch am meisten zur Förderung unseres Fortschritts bei.
Wenn die offenkundigen Fehler eines Nächsten dem, der freundlich zu sein sucht, eine Verantwortung oder eine Abneigung aufzuerlegen scheinen, so wird ihm das Verständnis, daß Gott durch Sein unveränderliches Gesetz für jeden sorgt, diese Last abnehmen. Dies wurde einem jungen Schüler der Christlichen Wissenschaft bewiesen, als er im Geschäft mit ganz anders gearteten Leuten mit scheinbar unliebsamen Neigungen verkehren mußte. Er bemühte sich einfach, Gott als das Leben aller anzusehen. Dies reinigte sein Denken von Furcht und Selbstgerechtigkeit, und die Folge war, daß er bald eine gewisse Zuneigung und Freundschaft für seine Mitarbeiter empfand, die sie reichlich erwiderten.
Weil die vollkommene Einigkeit alles dessen, was Gott schafft, nicht gestört werden kann, können wir in Wirklichkeit nie von jemand getrennt werden; aber wir können und sollten uns mental von einem materiellen Sinn zu einem geistigeren Ausblick erheben. Diese Tatsache erfassen und unablässig anwenden, heißt den Sinn von Trennung und Verlust endgültig aufgeben, weil wir verstehen lernen, daß die geistige Tatsache bleibt, während nur die materielle falsche Vorstellung davon verschwindet. Wir sollten die göttliche Forderung, uns zu erheben, nicht fürchten. Das Festhalten am Prinzip, an Gott, schließt nicht in sich, daß wir Freundschaft aufs Spiel setzen; denn alle wahre Wesenseinheit bleibt im Prinzip.
Materielle Eigenschaften sind nicht einmal mit sich selber wahrhaft in Frieden, und sie fühlen überall, wo geistige Eigenschaften zum Ausdruck kommen, deren entgegenwirkende Macht. Wenn sich zwei oder mehr Menschen auf der Grundlage materiellen Denkens kennen gelernt haben und einer sich dann dem höheren Gebiet der Christlichen Wissenschaft zuwendet, so trennen sich ihre Wege. Aber es ist nur eine vorübergehende Uneinigkeit; denn dasselbe Gesetz, das am Werk ist, den einen zu erlösen, ist am Werk, die anderen zu erlösen. Dies tritt zuweilen schnell zutage, wenn einer, der den geistigen Wert solcher fördernden Tugenden wie Stillesein, Rechtschaffenheit, Erbarmen, Demut und Zuneigung erkannt hat, diese genügend sich vergegenwärtigt und weise anwendet. Ein gutes Vorbild legt nicht nur beredtes Zeugnis ab, sondern läßt auch der Tugend Duldsamkeit freien Lauf.
„Aber die Gottesfürchtigen trösten sich untereinander”, lesen wir im Propheten Maleachi. Alle, die das Gute lieben, lieben auch gute Zwecke, und sie arbeiten zusammen in allem, was das geistige Wohl der Menschheit fördert. Ein solches Zusammenarbeiten ist immer leicht, wenn das Ziel hoch genug ist. Denn dann ordnen sich persönliche Erwägungen ganz von selber und ohne Zögern dem Ziel unter. Wer eifrig darauf bedacht ist, Gott zu bekunden, wird nicht unzufrieden, wenn ihm kein menschliches Lob zuteil wird, oder wenn er keine hervorragende Stellung einnimmt, da Gottes Arbeit tun schon an sich eine befriedigende Beschäftigung ist.
Mrs. Eddys herrliches Gedicht „Liebe” (Gedichte, S. 6, 7) sollte uns immer von neuem begeistern, nach jener Einigkeit zu trachten, die aus dem Geist geboren ist. Die Botschaft dieses Gedichts ist reich an Heilung für die ganze Welt, und die unvergleichliche Schönheit des Ausdrucks ist ein Sinnbild der Herrlichkeit seiner Wahrheit. Wir tun gut daran, über die darin enthaltenen Anweisungen gründlich nachzudenken und sie in die Tat umzusetzen. Eine dieser Anweisungen lautet:
„Trachtet nach heiligen Gedanken und himmlischer Veranlagung,
Wodurch die Menschen in Liebe vereinigt bleiben”.
