Eine Fabel erzählt von einer Henne, die keine Nahrung fand, obgleich sie auf einem offenen Weizenfaß saß. Über dem vermeintlichen Mangel an etwas, was doch vorhanden war, brütend, saß sie Tag für Tag inmitten einer Fülle und wurde immer magerer. Wie viele Menschen doch heute der Henne in der Fabel gleichen! Trotz der vorhandenen Fülle Gottes sind viele ganz in Mangelannahmen befangen: Annahmen von Mangel an Versorgung, mangelhafter Gesundheit, Mangel an Harmonie.
Diese Geschichte dürfte uns mahnen, die Augen für das Gute zu öffnen, das uns überall umgibt, und das wir oft übersehen. Aber laßt es uns einmal von einem andern Gesichtspunkt aus betrachten, nämlich mit Rücksicht auf die Henne. Was würde ein Tierfreund angesichts dieser Henne in der Fabel getan haben? Würde er über ihr törichtes Verhalten gelacht und gesagt haben, es geschehe der einfältigen Henne ganz recht, wenn sie so dumm ist? Würde er im stillen gedacht haben, sie tue ja doch immer etwas Dummes und es geschehe ihr ganz recht, wenn sie jetzt leide, da sie das nächstemal vielleicht noch etwas Dümmeres tun würde? Würde er ihr nicht vielmehr gezeigt haben, wie und wo sie die nötige Nahrung finden konnte, und würde er sie ihr nicht vielleicht sogar zurechtgelegt haben?
So sollte der Menschenfreund heute tiefes Erbarmen mit dem Unglücklichen haben. Der Christliche Wissenschafter, der keine falsche Teilnahme an den äußerlichen Zuständen oder an den Annahmen darüber bekundet noch dem Irrtum zustimmt oder an seine Wirklichkeit glaubt, wo nur das Gute gegenwärtig ist, lenkt unser Denken liebreich vom Körperlichen auf das Geistige, von unseren irrigen Annahmen auf das Verständnis des wahren Daseins hin.
Während seiner ganzen irdischen Laufbahn brachte Jesus diese wahrhaft mitfühlende Haltung denen gegenüber zum Ausdruck, deren mentaler Ausblick eingeengt war. Dies tritt herrlich in seiner erhabenen Erklärung zutage: „Jerusalem, Jerusalem, die du tötest die Propheten und steinigst, die zu dir gesandt sind! wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne versammelt ihre Küchlein unter ihre Flügel; und ihr habt nicht gewollt!” Da er besser als sonst jemand die liebevolle Fürsorge des Vaters kannte, brachte er diese göttliche Botschaft der Liebe und des Erbarmens mit jedem Wort und in jeder Handlung zum Ausdruck. Durch Gleichnis, Gebot und Beispiel lehrte er sie und verlieh ihr den höchsten Ausdruck in seinem wunderbaren Opfer am Kreuz. Er lebte seine Religion der Liebe.
Mary Baker Eddy schreibt in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” (S. 19): „Jesus half den Menschen mit Gott zu versöhnen, indem er dem Menschen einen wahreren Begriff von Liebe, dem göttlichen Prinzip der Lehren Jesu, gab, und dieser wahrere Begriff von Liebe erlöst den Menschen von dem Gesetz der Materie, der Sünde und des Todes durch das Gesetz des Geistes, das Gesetz der göttlichen Liebe”.
Ein Schüler, der bestrebt war, einen Begriff davon zu erlangen, daß Gott liebreich für ihn sorgt, obgleich Er von dem Bösen oder den Schwierigkeiten, die er durchmachte, nichts wußte, konnte diesen scheinbaren Widerspruch lange nicht verstehen. Wie konnte Gott ihn lieben und für ihn sorgen, wie Er für die Sperlinge sorgt, wenn Er die materiellen Zustände nicht kannte? Da ließ ihn Jesu Versicherung, daß der Vater „seine Sonne aufgehen läßt über die Bösen und über die Guten”, über den wohltätigen Einfluß des Sonnenlichts auf alles, worauf es scheint, nachdenken. Aus dieser Betrachtung zog er eine Lehre von Gottes liebevoller Fürsorge für die Menschen, und der Zweifel und die Unklarheit hinsichtlich der Erklärung, daß das Gemüt im sogenannten physischen Reiche allerhaben ist, waren beseitigt. Die Sonne scheint auf alle, weil sie naturgemäß nicht anders kann. Die Sonne weiß nichts von unreifen grünen Äpfeln; aber ihre wohltätigen Strahlen, unter denen die Frucht reift, bewirken den köstlichen Geschmack. Die warmen Sonnenstrahlen entfalten die Rosenknospe in Form, Farbe und Duft zu strahlender Schönheit.
Dies veranschaulicht, wie die Wahrheit den Irrtum ausmerzt, wenn wir unser Denken auf das wohltätige Licht der Liebe richten, das das Unwirkliche ausscheidet, indem es das Gute, das Wirkliche, augenscheinlich macht. Gott ist das All in allem. Seine Allheit schließt die Gegenwart alles dessen aus, was nicht mit Seinem eigenen liebevollen Dasein und Wesen übereinstimmt, und vernichtet allen falschen Sinn von Krankheit, Mangel oder irgend welcher Geltendmachung eines Gesetzes des Bösen. Er erzeigt uns Seine zärtliche Liebe durch Aufstellung von Gesetzen des Guten. Da unser Vater auf ewig in Seinem eigenen Lichte wohnt, sieht Er nur Licht und drückt nichts anderes aus als Licht, das Licht unwiderstehlicher Liebe zu Seinen Kindern; und der Mensch weilt bewußt in der Gegenwart dieses Lichts der Liebe. Er ist eins mit dem Vater; und da der Vater in allem Guten vollkommen ist, kann der Sohn nichts anderes als diese Vollkommenheit ausdrücken. Die Liebe drückt im Menschen Freundlichkeit, Liebreichtum, Mitgefühl, Sanftmut, Erbarmen — alle Eigenschaften der vollkommenen Liebe — aus.
Wenn wir über Gottes Allerhabenheit, Güte und Allheit nachdenken, sind wir uns unseres Einsseins mit Ihm bewußt. Seine Gegenwart wird uns wirklicher, Seine Abwesenheit wird zur Unmöglichkeit. Das Bewußtsein der alles durchdringenden Liebe erfüllt unser Sein, und wir lernen verstehen: „zeitweilig sich des Gesetzes Gottes bewußt werden, heißt in einem gewissen endlichen menschlichen Sinne empfinden, daß Gott zu uns kommt und sich unser erbarmt” (Unity of Good, S. 4). Dies kommt zu uns als die Liebe des Vaters zu Seinem Kinde, nicht infolge davon, daß wir das Böse kennen oder in einem menschlichen Sinne bemitleidet werden, sondern durch Vernichtung unseres Sinnes vom Bösen und Beseitigung unseres Glaubens an etwas, was in Wirklichkeit nicht besteht.
Im unumschränkten Reiche des Geistes kennt die Liebe nichts, was zu überwinden wäre. Alles ist Liebe und lieblich. Es gibt keine Krankheit zu heilen, kein Übel zu vernichten. Aber in die menschliche Erfahrung kommt der Christus, das Wort oder die Wahrheit, und drückt im einzelnen menschlichen Bewußtsein diese Liebe, die Liebe Gottes, aus. Und die Folge dieser Erfahrung ist Heilung; denn „die Liebe versagt nie” (engl. Bibel).
