Seit den ersten Tagen des Christentums ist das Reich Gottes oder die Stadt Gottes Gegenstand der Hoffnung oder des Strebens aller Gläubigen. Es ist immer das Thema vieler Lieder, Predigten, Bücher gewesen. Dennoch müssen wir zugeben, daß für die allermeisten Christen die Ansichten über dieses Reich mehr auf der sinnbildlichen Bildersprache des Buchs der Offenbarung als auf den vielen Erklärungen Christi Jesu, des Gründers des Christentums, über den Gegenstand zu beruhen scheinen.
Das moderne Denken hat zweifellos die Grundlagen dieser Vorstellung vom Himmel erschüttert und an seiner Stelle nur einen unbestimmten Glauben an einen Zustand der Genügsamkeit oder Befriedigung gelassen. Es ist aber fraglich, ob viele, die sich als Christen bekennen, auf die Frage: „Was oder wo ist das Reich Gottes oder das Himmelreich?” eine bestimmte Antwort geben könnten. Das einzige, was sie bestimmt sagen würden, wäre, daß es nicht hier und jetzt sondern in einem zukünftigen Zustande, d.h. nach dem Tode zu erlangen sei.
Diese Ansicht ist umso überraschender, wenn man bedenkt, daß Jesus von Nazareth in seinen vielen Erwähnungen des Reiches Gottes nie etwas behauptete, was die herrschenden Annahmen darüber rechtfertigen würde. Er machte auf drei ganz bestimmte Zustände des Reiches Gottes aufmerksam: erstens, daß es ein Zustand fortschreitender Tätigkeit ist; zweitens, daß es durch Buße als „herbeigekommen” erfunden würde; und drittens, daß es nicht mit äußerlichen Gebärden, d.h. von außen her kommen würde, weil es, wie er sagte, „in euch” ist.
Die Evangelien enthalten viele kurze Gleichnisse, in denen Jesus das Wesen des Reiches Gottes mit einer Kürze und einer Bündigkeit veranschaulichte, die nicht ihresgleichen haben. Er verglich das Reich mit dem Senfkorn, das aus einem winzigen Samen zu einem Baum heranwächst, in dessen Zweigen die Vögel unter dem Himmel wohnen. Es gleicht dem Sauerteig, der den Teig nach und nach ganz durchsäuert. Es gleicht dem Samen, der aufgeht und wächst, und der Sämann weiß nicht wie. Es gleicht dem verborgenen Schatz oder der „köstlichen Perle”, die es wert ist, daß man alles, was man hat, dafür aufgibt.
Für Jesus war somit das Himmelreich etwas Antreibendes, etwas, wofür man zu arbeiten, zu opfern hat, um es zu gewinnen. Was kann eine solche Triebkraft anders sein als die Kraft des Denkens, des Bewußtseins? Ja, Jesus selber erklärte dies auf andere Art, als er sagte, daß ewiges Leben Gotteserkenntnis sei.
Wir müssen anerkennen, daß auf Grund der Tatsache, daß das Reich Gottes ein Gemüts- oder Bewußtseinszustand ist, eine gewaltige Veränderung im menschlichen Denken und in den menschlichen Idealen stattfinden muß, wenn man das Reich zu erkennen beginnt. Es scheint auch, daß Jesus mit seinen Jüngern über solche Veränderungen im Denken sprach und die unvermeidlich daraus hervorgehenden Umwälzungen als „allererstes Anheben der Not” beschrieb. Die Geschichte des Urchristentums zeigt, daß er richtig vorausgesehen hatte. So groß war der mentale Aufruhr, daß die Gotteserkenntnis jener Zeit nicht ausreichte, ihm zu widerstehen. Das Christentum versank in Materialismus, wo das Wirken des Reiches Gottes der Annahme nach einem künftigen Leben zugewiesen wird.
Der Schüler der Christlichen Wissenschaft ist überzeugt, und er ist bereit, durch Beweis zu zeigen, daß dieselben Grundwahrheiten, die Christus Jesus über das Reich Gottes lehrte, im christlich-wissenschaftlichen Lehrbuch „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” und in Mrs. Eddys anderen Schriften zu finden sind, und daß diese Wahrheiten, wenn angewandt, dieselbe Umwälzung im menschlichen Denken wie im ersten Jahrhundert hervorrufen. Was für schreiende Überschriften sehen wir, wenn wir eine Zeitung in die Hand nehmen? Sind es nicht Kriegsgerüchte, zuweilen Beschreibungen von Erdbeben, Not der Völker, Hungersnot, „Schmachten der Menschen vor Furcht und vor Warten der Dinge, die kommen sollen auf Erden”?
Die Frage, vor die sich die Kirchen heutzutage zweifellos gestellt sehen, ist: Wie können wir solchem Unheil, das die Welt anscheinend zu überwältigen droht, widerstehen und damit der Welt helfen zu widerstehen?
Im 12. Kapitel des Evangeliums des Markus ist eine Begebenheit berichtet, die ganz besonders zu bestätigen scheint, daß die Christliche Wissenschaft tatsächlich die erneuerte Darlegung des von Jesus gelehrten und bewiesenen Christentums ist. Als ein Schriftgelehrter Jesus fragte, welches „das vornehmste Gebot vor allen” sei, und seine Antwort erwidernd zugab, daß Gott über alles lieben in der Tat besser ist als alle Opfer und Kirchenbräuche, sagte Jesus: „Du bist nicht ferne von dem Reich Gottes”. So verband er diesen Zustand der Vollkommenheit mit der praktischen Anerkennung des einen Gottes. Auf Seite 340 in Wissenschaft und Gesundheit erklärt die Verfasserin: „Das göttliche Prinzip des ersten Gebots ist die Grundlage der Wissenschaft des Seins”, und sie zeigt dann die Wirkung, die die Anerkennung dieser Wahrheit auf menschliche Angelegenheiten haben wird: „Der eine unendliche Gott, das Gute, vereinigt Menschen und Völker; richtet die Brüderschaft der Menschen auf; beendet die Kriege; erfüllt die Schriftstelle:, Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst‘; vernichtet heidnische und christliche Abgötterei — alles, was in sozialen, bürgerlichen, kriminalen, politischen und religiösen Gesetzen verkehrt ist; stellt die Geschlechter gleich; hebt den Fluch auf, der auf dem Menschen liegt, und läßt nichts übrig, was sündigen, leiden, was bestraft oder zerstört werden könnte”.
Es muß zugegeben werden, daß es keine Übertreibung ist, diese Erklärung eine Weissagung zu nennen, wenn man sich vergegenwärtigt, daß diese Worte vor vielen Jahren geschrieben wurden, als solche Fragen die ruhigen Wasser menschlicher Angelegenheiten sozusagen kaum bewegten, und daß sie heute im Denken der Menschen vorherrschen. Nie zuvor sind so beharrliche oder so verschiedenartige Anstrengungen gemacht worden, Einigkeit unter Menschen und Völkern herbeizuführen. Die Frage der Gleichstellung der Geschlechter beschäftigt die Berufe immer mehr. Die Reinheit und Aufrichtigkeit der Religion wird ehrlich untersucht, und es werden beständig Anstrengungen zur Verbesserung der gesellschaftlichen Zustände gemacht. Was soll das Endziel aller dieser Bestrebungen sein? Für den Christlichen Wissenschafter hängt die Antwort auf diese Frage davon ab, ob die christlich-wissenschaftliche Bewegung im einzelnen und im ganzen den Christus im Leben und Handeln so unverkennbar erhöht, daß dadurch alle Menschen zu der Wahrheit hingezogen werden. Geschieht dies demütig, unablässig und ehrlich, so muß es unvermeidlich eine allgemeine Vergeistigung des Denkens zur Folge haben, und jene höchst wünschenswerten Zustände, auf die Mary Baker Eddy hinwies, werden immer allgemeiner und vorherrschender werden.
Vielleicht die bedeutsamste Äußerung Jesu über diesen Gegenstand sind seine an Nikodemus gerichteten Worte: „Es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen”. Was anders kann er gemeint haben als die vollständige Erhebung des Denkens von einer materiellen auf eine geistige Grundlage? Es bedeutet einen neuen Ausblick, neues Trachten, neue Ansichten über Beziehungen, neues Streben, neue Ideale, in der Tat das Erscheinen „des neuen Menschen”. Diese Umwandlung wird nicht in einem Tage vollbracht. Daß sie aber das Ziel ist, dem wir zustreben müssen, ist aus der ganzen christlichen Geschichte ersichtlich. Unsere Führerin schreibt in „Miscellaneous Writings” (S. 341): „Suchen genügt nicht, die Ergebnisse der Wissenschaft zu erlangen: du mußt kämpfen, und der Preis des Kampfes kommt durch Ehrlichkeit und Demut”.
