„Laßt uns dieses Prinzip zur Heilung von Krankheit anwenden, ohne andre Mittel auszubeuten.“ So schreibt Mary Baker Eddy, die Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft, auf Seite 457 ihres Lehrbuches „Wissenschaft und Gesundheit“. In dieser Erklärung sowie vielen andren in diesem Sinne macht sie die Tatsache klar, die alle treuen Christlichen Wissenschafter als unwandelbar und endgültig annehmen, nämlich, daß das Gebet, das die Kranken heilt, nicht mit materiellen sogenannten Heilmethoden vermischt werden kann.
Warum macht dann Mrs. Eddy die Zugeständnisse, die wir doch im Lehrbuch finden? Warum erklärt sie zweimal und deutet bei andern Gelegenheiten an, daß sie keine Autorität hat über einen angeblichen Nachfolger, der sich von den Umständen überzeugen läßt, daß er die gerade Methoden anwenden sollte, die in keiner Weise mit seiner Religion im Einklang stehn?
Die Antwort ist: Sie macht eigentlich gar keine Zugeständnisse. Jedenfalls keine, die der Annahme Zustimmung geben, daß man materielle Heilmethoden gebrauchen kann und gleichzeitig die Regeln der Christlichen Wissenschaft anwenden, die geistig heilt. Die Worte, die Mrs. Eddy — wie immer unter göttlicher Führung — gebraucht, bedeuten nur, daß sie es ihren Nachfolgern zeitweise oder im allgemeinen freistellt, ihrem besten Wissen und Gewissen gemäß zu handeln. Sie bedeuten keineswegs eine Freilassung; denn sie weiß, daß es ihr nicht zusteht, eine solche zu erteilen. Sie erkennt nur diese Tatsache an, ohne jemanden zu verurteilen. Doch bleibt die stillschweigende Folgerung ganz klar, daß die Anwendung von anderen, nicht der Wissenschaft entsprechenden Mitteln, keinen endgültigen oder wesentlichen Segen bringen kann. Trotzdem stellt Mrs. Eddy es ihren Nachfolgern frei, ihrem eigenen besten Wissen und Verstehen gemäß zu handeln; denn die Lektionen, die auf diese Weise gelernt werden, können nur, wenn sie ehrlich verarbeitet werden, schließlich zu einer größeren Aufnahmefähigkeit für die Wahrheit führen. Sie steht nur ein für die Pflicht eines jeden einzelnen, seine Rechnung mit dem Prinzip zu machen.
Um Mrs. Eddy verstehen zu können, ist es unumgänglich notwendig, zu begreifen, daß sie die wahre Erkenntnis von Gott, dem göttlichen Gemüt des Menschen, hatte. Demgemäß verstand sie zwar die Formen, welche die menschliche Vernunft annimmt, doch ging sie zugleich weit darüber hinaus. Sie erkannte und anerkannte die Unbeugsamkeit der Christlichen Wissenschaft, des göttlichen Gesetzes, das vom Menschen die stetige Übereinstimmung mit dem geistigen Vorbilde verlangt, das als Ebenbild und Gleichnis des Gemüts, das ihn erschaffen hat, definiert wird. Doch wußte sie auch, daß dasselbe göttliche Gemüt die unendliche Liebe ist, und daß wahre Konsequenz von dem Menschen ausgedrückt wird, der verständnisvolle Liebe zeigt, während er unerschütterlich dem vollkommenen Gesetz gehorcht.
Mrs. Eddy liebte die Freiheit. Sie wußte, daß die Freiheit die Grundlage für die Erlösung der Menschen bildet. Sie wußte, daß jeder einzelne Mensch selber die Sehnsucht haben muß, seinen Schöpfer zu erkennen. Kein Geheiß, sondern nur die eindringliche Überzeugungskraft des Christus, der geistigen Idee, muß das Herz der Menschen rühren und es zu Gott lenken. Wenn man seine individuelle Fähigkeit ausübt, seine gegenwärtige höchste Auffassung von Weisheit anzuwenden, und willig ist, die Lektionen zu lernen, die dies Verfahren ihm bringt, so wird sein Bewußtsein sich bestimmt entfalten und immer mehr mit der Wahrheit in Einklang gebracht werden. Und das ist die höchste Leistung, deren ein Mensch fähig ist.
Die Achtung, die Mrs. Eddy der individuellen Verpflichtung der Menschen, für sich selber zu denken, zollte, ist ersichtlich aus der oft wiederholten, unzweideutigen Zustimmung, die sie der Mahnung des Paulus gab (Phil. 2: 12, 13): „Schaffet, daß ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern. Denn Gott ist's, der in euch wirket beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen.“ So zitiert sie zum Beispiel die Worte des Paulus an einer Stelle in ihrem Lehrbuch (S. 99) mit nachfolgenden Äußerungen, die darauf hinweisen, daß das geistige Verständnis der Christlichen Wissenschaft in ihnen den Schlüssel zum Himmelreich findet. An einer anderen Stelle (ebd., S. 442) zitiert sie von neuem jene Worte des Paulus, und fügt die Worte Jesu hinzu, die wir im Lukasevangelium (12: 32) finden: „Fürchte dich nicht, du kleine Herde; denn es ist eures Vaters Wohlgefallen, euch das Reich zu geben.“ Dann erklärt sie: „Diese Wahrheit ist die Christliche Wissenschaft.“
Es ist bezeichnend, daß Mrs. Eddy, wo auch immer sie nachsichtig den relativ langsamen Fortschritt der Sterblichen beurteilt, indem sie deren eigene Denkvorgänge in Betracht zieht, nie versäumt, eine Erklärung hinzuzufügen, die daran erinnert, daß absolute Christliche Wissenschaft allein der wahre Heiler ist, und daß ihr Fälle bekannt sind, bei denen diese Wissenschaft, radikal und absolut angewandt, ihre vertrauenswürdige, nie versagende Kraft bewiesen hat.
Das Geheimnis für sicheren Erfolg, wenn es ein solches gibt, besteht in der Ehrlichkeit des Einzelmenschen. Der Fortschritt, der sich aus der Anwendung der höchsten, für ihn erreichbaren Auffassung von Weisheit ergibt, entspricht seiner Ehrlichkeit. Er entfaltet sich in geistiger Herrschaft und hohen Leistungen. Bewußte Abweichungen vom Prinzip, die materiellen Zwecken und Zielen dienen, bedeuten Heuchelei. Und Heuchelei ist eine Schwäche, die aus dem Bewußtsein ausgetrieben werden muß, um bewußtes Leiden zu überwinden und den wirklichen Menschen zu offenbaren.
Mrs. Eddy war kein Gesetzgeber. Sie erkannte, daß die Gesetzgebung Gott zusteht. Auch war sie kein Engel der Rache. Sie legte dar, was Gottes Gesetz ist, und forderte die Menschen auf, es zu befolgen zu ihrem eigenen Besten. Sie half den Menschen, die falschen Eigenschaften aus ihrem Bewußtsein auszutreiben, die von Sünde zeugen. So befähigte sie die Menschen, sich als von der Sünde losgelöst zu betrachten, — von all dem, das je von einem rächenden Engel heimgesucht werden könnte. Sie warf wunderbares Licht auf alle Wirklichkeit. Und dann wandte sie sich in ihrem Gebet an Gott — ihrem Gebet, das durch die Zeitalter hindurch erhört werden wird — nämlich dem Gebet des klaren Verstehens, daß jeder einzelne Mensch zur gegebenen Zeit, am Tage des Heils, sein Bewußtsein jenem vollkommenen Prinzip auftun muß, mit dem seine wahre Selbstheit auf ewig vereinigt ist.
Daher gibt es keine Zugeständnisse an die Materie von Seiten Mrs. Eddys. Wir finden bei ihr Barmherzigkeit und Ermutigung für den, der eben den ersten Schimmer von der Wirklichkeit erhascht, niemals harte Kritik an einem, der sich ehrlich bemüht, ein Verständnis der Wirklichkeit zu erlangen. Wir lesen in ihren Schriften von der Allheit Gottes und von der Erkenntnis Gottes. Wir lernen bei ihr rückhaltloses Vertrauen auf unsern Vater-Mutter Gott und die Anwendung dieses Vertrauens auf Grund des Verstehens, daß es keine andere Macht gibt, auf die wir uns verlassen können. Und wir ernten den Lohn der geistigen Selbsterkenntnis, der sich in Gesundheit und unzerstörbarer, nie zu vermindernder Existenz offenbart für denjenigen, der sein Denken im Einklang hält mit Mrs. Eddys so klarer Darlegung in ihrem Buch „Die Erste Kirche Christi, Wissenschafter, und Verschiedenes“ (The First Church of Christ, Scientist, and Miscellany, S. 242): „Die Christliche Wissenschaft ist absolut; sie steht weder hinter dem Standpunkt der Vollkommenheit, noch bewegt sie sich auf ihn zu; sie steht auf dem Standpunkt der Vollkommenheit und muß von diesem aus angewandt werden.“
