In der Christlichen Wissenschaft lernt man bald, daß der Mensch als das genaue Ebenbild Gottes sein Dasein auf dem Standpunkt der Vollkommenheit hat. Beim Ausüben dieser Wissenschaft muß man sich bewußt sein, daß man mit dieser Vollkommenheit wesenseins ist. Das christlich-wissenschaftliche Ausüben beginnt also nicht mit einer kranken Person; es beginnt auch nicht damit, etwas an einer Person zu tun. „Der Ausgangspunkt der göttlichen Wissenschaft“, schreibt Mary Baker Eddy im Lehrbuch „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ (S. 275), „ist, daß Gott, Geist, Alles-in-allem ist, daß es keine andre Macht und kein andres Gemüt gibt — daß Gott Liebe ist, und daß Er daher das göttliche Prinzip ist.“
Die Christliche Wissenschaft lehrt, daß Gott und der Mensch in der Wissenschaft des Seins voneinander verschieden sind, obgleich sie als Ursache und Wirkung ewig eins sind. Folglich steht die Vollkommenheit des Menschen ewig fest und wird von Gott erhalten. Paulus sagte (Apg. 17, 28): „In ihm leben, weben und sind wir.“ Indem Gott Seine eigene Harmonie aufrechterhält, erhält Er gleichzeitig die Harmonie und das Wohlergehen Seines geliebten Kindes aufrecht. Dies kommt nicht durch zwei Vorgänge zustande, sondern es besteht als eine geistige Tatsache. Der Christliche Wissenschafter geht bei seinem Überlegen also davon aus, daß der vollkommene Gott und der vollkommene Mensch eine gegenwärtige Tatsache ist. Ein solch bestimmter Standpunkt scheidet durch die Herrschaft und die Freiheit, die er in sich schließt, die Schwierigkeit aus als Grundlage der Arbeit oder als etwas, was man bei der Arbeit beobachten muß. Der Wissenschafter stellt freudig fest, daß er nicht mit einer Schwierigkeit, sondern mit den Tatsachen des Seins wesenseins ist. Er macht geltend, daß er Fülle und Gelegenheiten hat. Und er erkennt, daß Annahmen über materiellen Besitz, Herkunft, Ausbildung und Umgebung — ob er sie in Fülle besitzt oder sie ihm leider fehlen — die geistigen Tatsachen des Seins nie in ihr scheinbares Gegenteil verwandeln noch ihn von der Erkenntnis trennen können, daß diese Tatsachen ewig in seinem von Gott gebildeten und von Gott erhaltenen Selbst inbegriffen sind. Die Tatsachen des Seins werden von den Schrullen und Entstellungen des fleischlichen Gemüts nicht berührt. Daher ist der Wissenschafter in der Christlichen Wissenschaft nicht darauf bedacht, seine Gesundheit oder seine Freude zurückzuerlangen, sondern er handhabt den Irrtum, der sagt, daß man sie verlieren könne.
Wissen, daß alles das Gemüt, die Liebe, ist. ist eine äußerst mächtige Vergegenwärtigung beim Anwenden der Christlichen Wissenschaft. Es bringt das befreiende Bewußtsein mit sich, daß es keine Materie, keine Krankheit gibt. Die Erkenntnis, daß das Sein jetzt vollkommen ist, ist die Heilung. Es ist keine Materie vorhanden, die man zu ändern oder zu beobachten braucht, die uns beeinflussen oder schrecken kann — es ist keine Materie vorhanden, die Gottes Gegenwart verbergen oder Seine Macht aufhalten kann. Alles ist Gemüt und sein harmonischer, geistiger Ausdruck.
Vor Jahren kam Mrs. Eddy allen Heilverfahren ihrer Zeit zuvor durch ihre hervorragende Entdeckung, daß es keine Materie gibt. Heute, nach 75 Jahren, erkennt die Welt in einer begrenzten und endlichen Weise die Richtigkeit ihrer Entdeckung an. Naturforscher und Seelenforscher sagen, daß die Materie ihrem Wesen nach gedanklich ist. Aber man darf das Folgern der Seelenforscher nicht mit christlich-wissenschaftlichem Wissen verwechseln. Die Seelenforschung hält bei ihrem Folgern das sterbliche Gemüt mit seiner Unzulänglichkeit, seinem Neid und seiner Furcht für wirklich. Sie verkündet, daß diese Zustände Ursachen seien, und sie zieht von dieser Grundlage aus ihre Schlüsse. Kann aber der Christliche Wissenschafter einen solchen Ausgangspunkt gelten lassen? Kann er stillschweigend mit der Strömung einer herangebildeten menschlichen Annahme gehen? Er kann es nicht tun. Er versteht, daß der Mensch keine eigenes Gemüt hat, das widerspenstig oder krank sein kann; denn er glaubt, daß Gott das eine Gemüt ist, das der Mensch widerspiegelt. Auf der Grundlage der Allheit dieses Gemüts, Gottes, sieht er, daß die Materie und folglich Krankheit unwirklich ist.
Mrs. Eddy sagt von Jesus (Wissenschaft und Gesundheit, S. 313): „Er tauchte unter die materielle Oberfläche der Dinge und fand die geistige Ursache.“ Manchmal ist man willens, die Unwirklichkeit der Krankheit zuzugeben, aber nicht ebenso willig, die Unwirklichkeit ihrer sogenannten Ursache zuzugeben. Dadurch gerät man in einen Widerspruch. Der Irrtum, der die Ursache der Krankheit zu sein behauptet — die Annahme, die Furcht, der Umstand, der Zustand — ist so unwirklich und so vergänglich wie die Krankheit selber. Der Irrtum hat in keiner Hinsicht Wirklichkeit. Was als Ursache und was als Wirkung erscheint, ist gleich unwirklich. Die Christliche Wissenschaft fordert uns auf, das wertlose Untersuchen im unwirklichen Reich der Materie mutig aufzugeben, sich nicht am materiellen Augenschein, an materiellen Namen und Kennzeichen nutzlos aufzuhalten, sondern die eine geistige Ursache, das göttliche Gemüt, zu suchen.
Das Erkennen und Anerkennen, daß Gott der wahre und einzige Urheber ist, bringt sowohl die scheinbar verborgene Furcht — das Hindernis für die Heilung — als auch die wissenschaftliche Tatsache, durch die sie vernichtet wird, ans Licht. Geistiges Wissen oder das Bewußtsein der Wahrheit des Seins läßt uns die Ruhe und die Macht der Liebe erleben. Das Gemüt und seine Vollkommenheit wird immer augenscheinlicher. Jesaja berichtet das göttliche Gebot (Jes. 45, 22): „Wendet euch zu mir, so werdet ihr selig, aller Welt Enden; denn ich bin Gott, und keiner mehr.“
Wie wertvoll es ist, mit diesem erhabenen Denken zu beginnen und es festzuhalten, war in der Erfahrung einer Christlichen Wissenschafterin veranschaulicht, die vor einer Schwierigkeit stand, die ihr Schrecken einflößte. Die ersten Irrtumseinflüsterungen kamen als kummervolle Fragen: „Warum ist mir das zugestoßen? Womit habe ich das verdient?“ Ehe der Irrtum sich zu Auflehnung und Selbstbedauern vervielfachen konnte, erklärte die Wissenschafterin nachdrücklich, daß es wichtiger ist, zu verstehen, daß der Irrtum kein Dasein hat, als zu wissen, warum er zu bestehen schien. Sie erklärte, daß Gott nichts von einer Schwierigkeit wußte, und sie arbeitete vom Standpunkt der Allheit Gottes aus.
Als nach einigen Tagen eine Besserung, aber keine vollständige Befreiung eingetreten war, hatte sie das ungestüme Gefühl, sie müsse mehr von Gott beweisen. Sie erkannte indessen, daß dies eine persönliche und begrenzte Stellungnahme war, denn sie brachte Furcht, Unzulänglichkeit und Selbstherabwürdigung mit sich, die sie als irreführend erkannte. Sie betete aufrichtig darum, zu wissen, daß sie sich auf dem „Ausgangspunkt der göttlichen Wissenschaft“, auf dem Punkt der Erkenntnis befand, daß Gott das einzige Gemüt, die einzige Macht in dem Fall war. Aus diesem aufrichtigen Verlangen entfaltete sich eine Vergegenwärtigung in dem Sinne: „Das Dartun steht Gott zu. Was mir not tut, ist die Erkenntnis, daß Gott Seine eigene Gegenwart dartut. In Seinem Werk kann nichts verkehrt sein.“ Die unmittelbare Folge dieses Engelgedankens war Friede und die Gewißheit, daß das Gute gegenwärtig war. Die Versuchung, über die Schwierigkeit nachzudenken oder darüber zu reden, hörte auf. Die scheinbar verwickelten Einzelheiten begannen der Macht des Gemüts zu weichen, und schließlich wurde die ganze schwierige Aufgabe gelöst.
So hebt die Wissenschaft das Denken in das Reich des vollkommenen Seins empor, wo man den Menschen als die furchtlose, unbeschränkte, freie Kundwerdung Gottes sieht. Man sieht, daß dieser Zustand nicht außerhalb von uns ist; daß er von keiner Person und keinem Ort abhängig ist; daß er uns nicht unerreichbar, nicht eine Tatsächlichkeit ist, die wir uns später einmal anzueignen hoffen. Es ist der Zustand unseres eigenen wahren Selbst, das die Widerspiegelung des allumfassenden Gemüts ist, das Gott ist. Wir erkennen, daß der Mensch nicht ein Zuschauer ist, der das Schauspiel des Guten aus der Ferne beobachtet; er ist vielmehr der Ausdruck dieses unendlichen Guten. Diese Erkenntnis läßt uns die Frische und Gewißheit der göttlichen Liebe empfinden, die Tatkraft und Macht des göttlichen Lebens erleben, und die ewig unverringerte, augenblickliche Tätigkeit der göttlichen Wahrheit bekunden.
Wenn wir so den Reichtum und die Seligkeit des Einsseins des Menschen mit dem Gemüt kennen, und erkennen, daß der Mensch sein Dasein mühelos und freudig auf dem Standpunkt der Vollkommenheit hat, veranschaulichen wir die Wahrheit der Worte (Wissenschaft und Gesundheit, S. 262): „Wenn man von einem höheren Standpunkt ausgeht, steigt man wie von selbst höher, ebenso wie Licht mühelos Licht ausströmt.“