In dem Bericht über Jesu Geburt im zweiten Kapitel des Evangeliums des Lukas lesen wir: „Und sie [Maria] gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.“ Einer Christlichen Wissenschafterin, die eines Tages zuhörte, als dieser Vers gelesen wurde, fielen besonders die Worte auf: „Kein Raum in der Herberge.“ Sie hatten ihr bisher keine besondere Botschaft zu enthalten geschienen; aber diesmal sah sie darin eine tiefe geistige Botschaft.
Wenn wir Erzählungen in der Bibel im Licht der Christlichen Wissenschaft zu ergründen suchen, ist es hilfreich und nötig, an Stelle der bloßen buchstäblichen Bedeutung gewisser Wörter die geistige oder metaphysische Bedeutung zu setzen. Es wirft zum Beispiel oft viel Licht auf Bibelstellen, wenn man anstatt „Haus“ „Bewußtsein“ setzt, wie dies der Fall war, als sie den Vers hörte, der aus dem Evangelium des Lukas vorgelesen wurde. Sie sah, daß die Herberge und die Krippe in diesem Bericht eine sinnbildliche Darstellung verschiedener Bewußtseinszustände waren.
Die Geburt der Christusidee im menschlichen Bewußtsein ist nicht mit Prunk verbunden. Sie ist ein heiliges, geistiges Erleben, das nur die kennen, die reines Herzens sind. Man kann also sehen, daß in der Herberge des materiellen Bewußtseins kein Raum ist für das Christuskind, das „in der Stille der Sanftmut kommt, wie vor alters zu dem Patriarchen am Mittag.“ Mit diesen Worten schließt Mary Baker Eddy einen Abschnitt auf Seite 224 im christlich-wissenschaftlichen Lehrbuch „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“, der von Anfang an lautet: „Ein höheres und praktischeres Christentum, das Gerechtigkeit demonstriert und die Bedürfnisse der Sterblichen in Krankheit und Gesundheit befriedigt, steht an der Pforte dieser Zeit und klopft, Einlaß begehrend, an. Willst du diesem Engel, der zu dir kommt, die Tür öffnen oder sie vor ihm verschließen, diesem Engel, der in der Stille der Sanftmut kommt, wir vor alters zu dem Patriarchen am Mittag?“
Es ist gut, wenn sich jeder fragt: „Ist in meinem Bewußtsein Raum für den Engel, der zu mir kommt — für die geistige Botschaft der Immergegenwart des Christus, der Wahrheit — oder ist er verdrängt durch materielle Gedanken oder Hindernisse, durch übermäßiges Betrachten und Beachten irdischer Dinge?“
Der unpersönliche Christus, dessen höchste sichtbare Kundwerdung der menschliche Jesus war, klopft immer an die Tür des Denkens, wartet immer auf freundliche Aufnahme; aber er kann nicht hineinkommen, solang die Tür geschlossen ist. Wir müssen die Tür öffnen und ihn einlassen. Wenn wir diesen himmlischen Gast bereitwillig aufnehmen und ihm ermöglichen, in unserem Gedankenheim zu bleiben, gestaltet er unser Leben um, heilt er unsere Krankheiten, macht er unsere menschlichen Beziehungen harmonisch und beseitigt die vielerlei Hindernisse, die unsern Pfad kreuzen.
Wer neue Pflanzen in seinem Garten oder neue Möbel in seinem Heim haben will, macht Raum für sie, indem er die alten ausscheidet. Ebenso müssen wir die hindernden Unwahrheiten des materiellen Sinnes ausscheiden, um bereit zu sein, die Dinge des Geistes in uns aufzunehmen. Wir sind gern bereit, in unserer Wohnung für schönere Dinge Raum zu machen, obgleich sie im besten Falle doch nur etwas Zeitweiliges und Unwesentliches sind. Warum sollten wir dann zögern, für die durch die Wissenschaft des Christentums enthüllte ewige Wahrheit Raum zu machen, wo doch ihr Annehmen und Anwenden im täglichen Leben uns und andern unendliche Segnungen bringt?
Wir müssen für den Christus, der die wahre Idee von Gott und dem Menschen offenbart, dadurch Raum machen, daß wir aus dem Denken jedes unschöne, unchristliche Merkmal, „alle Höhe, die sich erhebt wider die Erkenntnis Gottes“, ausscheiden. Alles materielle Gesinntsein muß durch die der Krippe entsprechenden geistigen Tugenden ersetzt werden. Vielleicht die wichtigste und schönste dieser Tugenden ist Demut. Ihr anscheinendes Gegenteil, die Selbstsucht, ist so erfüllt von der Wichtigkeit des eigenen Selbst, daß sie blind dafür ist, daß es etwas außer ihr gibt, etwas, was besser ist als sie. Nur wenn an Stelle der häßlichen Unwahrheit, Selbstsucht oder Stolz genannt, Demut tritt, kann der Christus Einlaß ins menschliche Bewußtsein finden. Unsere Führerin zeigt die Notwendigkeit dieser Änderung des Denkens, wenn sie schreibt (Wissenschaft und Gesundheit, S. 142): „Wie zu Jesu Zeit müssen auch heute Tyrannei und Stolz aus dem Tempel hinausgepeitscht, und Demut und göttliche Wissenschaft darinnen willkommen geheißen werden.“
In dem Bericht von dem Mann, der zu Jesus kam und ihn fragte, was er tun solle, um das ewige Leben zu ererben (Mark. 10, 17—22), sehen wir, daß der junge Mann begierig war, den Weg der Wahrheit und der Liebe zu finden. Nachdem er versichert hatte, daß er die Gebote von seiner Jugend auf gehalten habe, hieß ihn der Meister, zu verkaufen, was er hatte, und es den Armen zu geben. Da der Mann viele Güter hatte, ließ sein Eifer nach, als er hörte, was von ihm verlangt wurde, und er ging traurig davon. Bedeutsam ist, daß es von Jesus heißt, er „liebte ihn“, ehe er dem Fragesteller befahl, das Opfer zu bringen. Unser verstehender Meister wußte, daß es den Sterblichen nicht leicht fällt, ihre falschen Annahmen und Verlasse aufzugeben; aber er wußte zugleich, daß sie es tun müssen. Dieser Mann mußte für die Christusidee des Lebens Raum machen durch das Aufgeben seines Verlasses darauf, daß irgend etwas Materielles eine Quelle der Sicherheit oder des Glücks sein könne. Es tat ihm offenbar auch not, selbstlose Liebe verstehen zu lernen; denn nur durch sie konnte er den Weg zum ewigen Leben finden. Die Wahrheit verweilt nur in dem Bewußtsein, das der Ausdruck selbstloser Liebe ist.
In Erzählungen in den Evangelien und auch in einigen Geschichten im Alten Testament wird uns oft gezeigt, daß ein falscher Charakterzug aufgegeben werden muß, ehe der heilende Christus bewiesen werden kann. Wir finden Freiheit in dem Verhältnis, wie wir willig sind, die erforderliche Lehre zu lernen und alles aufzugeben, was nötig ist, um für den Christus, die Wahrheit, Raum zu machen. Der empfängliche Gedanke ist immer demütig. Phillips Brooks schreibt in seinem beliebten Weihnachtsgedicht:
Wo Demut ihn aufnehmen will,
Hält der Christus immer noch seinen Einzug.