Klar und genau entwarf Paulus die wahre Idee des Opfers für das menschliche Denken, als er schrieb (Röm. 12:1): „Ich ermahne euch nun, liebe Brüder, durch die Barmherzigkeit Gottes, daß ihr eure Leiber begebet zum Opfer, das da lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei, welches sei euer vernünftiger Gottesdienst.“ Mit gleicher Klarheit führte er die Gedankenvorgänge dieser großen gottesdienstlichen Handlung aus: „Und stellet euch nicht dieser Welt gleich, sondern verändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, auf daß ihr prüfen möget, welches da sei der gute, wohlgefällige und vollkommene Gotteswille.“
Die Christliche Wissenschaft erklärt wahres Opfer als die freudige Umwandlung des Denkens von materiellen Annahmen zu geistigem Verständnis. Sie beweist, daß Fleisch mit seiner Hinfälligkeit und seinen Leiden nicht der Mensch ist, sondern eine Täuschung, die vor der Offenbarung des zum Bilde Gottes geschaffenen Menschen, der geistig und vollkommen ist, dahinschwindet. Daher wird wahres Opfer als ein mentales Weihopfer erkannt, als das Aufgeben der Annahme eines persönlichen, materiellen Selbst durch das Verstehen Gottes, des Geistes, und Seines vollkommenen geistigen Sohnes. Dies Opfer schließt das Aufgeben falscher mentaler Eigenschaften in sich, die den sterblichen Menschen charakterisieren, wie etwa Furcht, Wollust, Haß und Apathie. Es verlangt die Demonstration der von Gott stammenden Elemente des wahren Menschentums, wie der Liebe, der Reinheit und des geistigen Verständnisses.
In der Allegorie von Kain und Abel finden wir die erste biblische Erwähnung einer gottesdienstlichen Handlung, und hier entdecken wir, welche Art Opfergaben allein der Gottheit wohlgefällig sind. Die Allegorie beschreibt zwei Arten der Gottesverehrung: die rituelle, die aus Kirchenbräuchen besteht, und die offenbarungsmäßige oder prophetische, die den sterblichen Daseinsbegriff aufgibt, um den Christus, Gottes sündloses, unsterbliches Ideal, zu demonstrieren.
Um den Gegensatz zwischen den Opfergaben des Kain und des Abel zu kennzeichnen, schreibt Mary Baker Eddy in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ (S. 541): „Ein Lamm ist eine lebendigere Daseinsform und kommt einem Gemütsopfer mehr gleich als die Früchte des Kain.“ Abels Lamm, das biblische Symbol der Unschuld und der Selbstaufopferung, stellt das Aufgeben der sterblichen Selbstheit und das Entschleiern der geistigen Idee der Liebe, nämlich des Menschen, dar — die einzige Opfergabe, die jemals der Gottheit angenehm sein kann. Solch ein Opfer bedeutet wahre Gottesverehrung. Es ist seinem Wesen nach prophetisch; denn es erfüllt die Aufgabe des Propheten, welcher in der Christlichen Wissenschaft zum Teil „das Verschwinden des materiellen Sinnes vor den bewußten Tatsachen der geistigen Wahrheit“ (ebd. S. 593) symbolisiert. Wer seine Gottesverehrung in dieser Weise ausdrückt, genügt den Anforderungen der Wahrheit im Geistigen sowohl wie im Körperlichen, denn er wird sich der geistigen Tatsachen bewußt, welche die göttliche Liebe enthüllt, und Körper wird dadurch geheilt.
Die Christliche Wissenschaft ist Prophezeiung im höchsten Sinne des Wortes. Ihre Anhänger sind Propheten in dem Maße, wie sie die Unwirklichkeit der sterblichen Begriffe und Auffassungen verstehen und geistige Begriffe in die Erscheinung bringen, — jene von Gott stammenden Begriffe, die sterbliche Täuschungen verscheuchen, wie das Licht die Dunkelheit verscheucht und Wahrheiten die Irrtümer aufklären.
Daß die Opfer der Christlichen Wissenschaft Gott wohlgefallen wird bewiesen durch die zahllosen Heilungen menschlicher Disharmonien und Leiden, die durch die wissenschaftlichen Gebete vollbracht werden. Jede Heilung bedeutet ein neues Überwinden der sterblichen Selbstheit, eine demütige Vergegenwärtigung der große Wahrheit, daß die Liebe und ihre Ideen das All der Schöpfung ausmachen. Mrs. Eddy sagt in ihrem Buch „Miscellaneous Writings“ (Vermischte Schriften, S. 185): „Das Aufgeben alles dessen, was den sogenannten materiellen Menschen ausmacht, und das Anerkennen und Erlangen seiner geistigen Wesenheit als Kind Gottes ist die Wissenschaft, welche die Schleusen des Himmels öffnet, aus denen das Gute in jeden Kanal des Seins hineinströmt und die Sterblichen von aller Unreinheit befreit, alles Leiden überwindet und das wahre Bild und Gleichnis dartut.“
Die Opfergabe des Kain symbolisiert für alle Zeiten jene Art religiöser Heuchelei, die durch Kirchengebräche und Rituell Gottesverehrung auszudrücken vorgibt, jedoch die Elemente der Fleischlichkeit zu überwinden versäumt, welche die prophetische Offenbarung der Kinder Gottes hindern. Diese falsche Auffassung von Gottesanbetung verweilt im Bereich der sterblichen Annahme. Sie erreicht ihren Gipfelpunkt in kirchlicher Tyrannei, die stets diejenigen zu verfolgen und unterdrükken sucht, die in Gott wohlgefälliger Weise durch die Demonstration ihre Anbetung dartun. Kains Verfolgung des Abel war ein Vorbote der Kreuzigung Christi Jesu. Sie versinnbildlicht die Verfolgung, welche die offenbarte Idee der Wahrheit in jedwedem Zeitalter zu erleiden hat. Sie stellt die bösen mentalen Strömungen der Auflehnung, Schlaffheit, geistigen Blindheit und Selbstsucht dar, die vorgeben, wie unser eigenes Selbst zu handeln und unserm Erwachen zu der Gegenwart und den geistigen Fähigkeiten unsrer wahren Selbstheit widerstehen.
In der Allegorie des Kain und Abel können alle eine Warnung und eine Mahnung finden, ihre Anbetung nicht zu äußerlich zu machen, sondern auf den Altar des Geistes ein gottwohlgefälliges, geistiges Weihopfer zu legen, ein gewisses Maß von Selbstaufopferung und von Widerspiegelung der lebendigen Liebe. Ohne dies würde die Gewohnheit, die Gottesdienste zu besuchen und die Lektionspredigten im Christlich-Wissenschaftlichen Vierteljahrsheft zu lesen, als ob dies ein Ritus wäre, unsre gottesdienstlichen Handlungen zu bloßem kirchlichem Formenwesen herabwürdigen, — das nichts zur prophetischen Entfaltung der Wirklichkeit oder zum religiösen Fortschritt beitragen kann, noch den Heilungsbeweis zu liefern oder ein Zeichen dafür zu erlangen vermag, daß es Gott wohlgefällig ist.
Jemandem, der nichts von der Wissenschaft weiß, mag das Aufopfern des eigenen Selbst als eine schmerzliche und unangenehme Aufgabe erscheinen; doch wenn es richtig verstanden wird, ist es die freudigste und erhabenste Erfahrung, die ein Mensch je haben kann. Christus Jesus kannte die reiche Freude der Selbstverleugnung, die tiefe Befriedigung, alles aufzugeben, was das Himmelreich, das Reich Gottes, verdunkeln könnte. Nur so konnte er sagen: „Wer sein Leben liebhat, der wird's verlieren; und wer sein Leben auf dieser Welt hasset, der wird's erhalten zum ewigen Leben.“
Eine Verzögerung der Heilung menschlicher Beschwerden mag der Versäumnis zuzuschreiben sein, das falsche sterbliche Selbst aufzuopfern: — der Versäumnis, Gott in einer Ihm wohlgefälligen Weise anzubeten. Das Überwinden des menschlichen Willens durch das Verständnis von der Oberherrschaft des Gemüts, die Dämpfung des Stolzes durch die Demonstration wahrer Demut, die Unterdrückung des Geltungsbedürfnisses und der Erhöhung der eigenen Persönlichkeit durch das Verstehen des Menschen als der Widerspiegelung Gottes, das Auslöschen sündiger Neigungen durch die Erkenntnis der innewohnenden Unschuld des Menschen — sie alle zeugen von der Umwandlung des Denkens, die wahre Anbetung bedeutet und die Segnungen der Liebe erntet.
Jede Demonstration von Gesundheit, Ehrlichkeit, Harmonie oder nutzbringender Wirksamkeit ist ein Beweis davon, daß Selbstaufopferung in gewissem Grade stattgefunden hat, daß eine gewisse Offenbarung Gottes und Seiner unwandelbaren Schöpfung empfangen worden ist, und daß jemandes Weihopfer auf dem Altar des Geistes als Gott wohlgefällig erfunden worden ist.