Als in Golgatha der Sturm gegen den Meister tobte, ließ er es zu, und zwar in dem Maße, wie die Menschen es wollten. Er tat dies, um durch Beweis zu zeigen, daß die Materie das wahre Sein in keiner Weise verletzen kann.
Mit welch gütigen Worten und wie geduldig überzeugend Jesus dem Zweifel, der Ungläubigkeit und der Furcht begegnete, mit der die Jünger ihn bei seinem Wiedererscheinen begrüßten! Er hatte ihnen gesagt, daß er an diesem Tage wieder bei ihnen sein werde. Drei Jahre lang waren sie die auserwählten Zeugen seiner fortschreitenden Beweise der Macht geistigen Verständnisses oder rechten Wissens gewesen. Als er ihnen jedoch in Erfüllung seiner Verheißung und der Voraussage der Heiligen Schrift wieder erschien, „erschracken sie“, wie Lukas uns sagt (Luk. 24, 37).
Die von Schmerz geblendeten Jünger erkannten ihn nicht. „Warum seid ihr so erschrocken?“ fragte Jesus, als er in göttlichem Erbarmen mit ihrem Schmerz die Gestalt darbot, nach der sie sich sehnten, sogar die verwundeten Hände und Füße, nach denen sie sahen. Wie von jeher führte Jesus sie mit unendlicher Weisheit und Geduld zu der Erkenntnis, daß nicht Furcht und Leid, sondern Gewißheit und Freude des Menschen Los sind.
Die Jünger waren bei einem früheren Anlaß schon einmal erschrocken, als der Meister nach der Speisung der Fünftausend sich in die Einsamkeit, auf einen Berg, zurückgezogen hatte, um zu beten, und später zu ihnen gekommen war, als sie auf dem von einem Sturm aufgewühlten Galiläischen Meer Not litten. „Ich bin's; fürchtet euch nicht!“, sagte er, als er auf dem tobenden Meer auf sie zuging. Da Jesus nur die Macht Gottes anerkannte, stillte er den Sturm für die Jünger; aber sie taten nichts, um später den Sturm für ihn oder für sich selber zu stillen. Vom körperlichen Sinn überwältigt, verloren sie die großen geistigen Wahrheiten, die er sie so geduldig gelehrt hatte, aus den Augen; sie ließen zu, daß der Sturm ihren Glauben und ihre Hoffnung erschütterte.
Durch das Ergründen von „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ von Mary Baker Eddy zusammen mit der Bibel haben schon Tausende und aber Tausende die geistige Weisheit der Heiligen Schrift verstehen gelernt, und dadurch neue Hoffnung und Befreiung von Furcht und Leid gefunden. In diesem Buch ist ein Punkt immer wiederholt: die Machtlosigkeit der Materie und materieller Gesetze; die Allmacht, Allgegenwart und Allwissenheit Gottes. Beim Lesen des Buchs können wir der Wahrheit seiner klaren Lehren so leicht zustimmen, wie die jünger, wenn Jesus mit ihnen sprach, die Wahrheit seiner Worte zugeben konnten; aber wie sie müssen wir, wenn uns der gegenteilige materielle Augenschein und gegenteilige Einwendungen entgegentreten, an der geoffenbarten Wahrheit festhalten. Nur dadurch kann uns der Segen eines ungetrübten, furchtlosen Lebens zuteil werden.
Wir lernen die Wahrheit, die die einzige Wirklichkeit bei allem menschlichen Erleben ist, nicht erkennen, wenn wir den Blick nicht abwenden von einem geschlossenen Grab, sei es der Hoffnung, eines hohen Strebens oder menschlicher Neigung. Die durch ihr Eingehen auf Leid verblendeten Jünger sahen nicht, daß ihr geliebter Meister nach seiner Auferstehung so lebendig war, wie er je gewesen war; daß er, selbst während die Menschen ihn tot nannten, bewies, daß die von Gott verliehene Macht ihm, nachdem der materielle Augenschein geltend gemacht hatte, daß er des Lebens beraubt worden sei, noch genau so gehörte wie zuvor. Daß sie sich dem Leid und der Verzweiflung hingaben, half ihnen nicht und Jesus sicher ebensowenig.
Jesus führte sie Schritt für Schritt zur Erkenntnis der geistigen, unveränderlichen Art des Seins und der von Gott kommenden Liebe. Er erschloß ihrem Blick die in den Lehren der Bibel enthaltene Weisheit. Wie uns Lukas in seinem kurzen Bericht über die Auferstehung sagt, ging er damals mit ihnen ein Stück Weges von Jerusalem weg. Der erste Teil der Begriffsbestimmung für „Jerusalem“ auf Seite 589 in Wissenschaft und Gesundheit lautet: „Sterbliche Annahme und sterbliches, von den fünf körperlichen Sinnen erlangtes Wissen.“ Man kann also sagen, daß er sie aus der Knechtschaft der Befürchtungen und der Lehren sterblichen Glaubens in das befreiende Verständnis der geistigen Bedeutung der Heiligen Schrift führte. Er erinnerte sie an die Prophezeiungen, in denen nicht nur die Auferstehung, sondern auch die ihr vorausgehende Verfolgung, die die Auferstehung aber nicht vereiteln werde, vorausgesagt war.
Auf jenem Wege von Jerusalem nach Bethanien, den Jesus so gut kannte, nahmen seine Nachfolger teil an seinem Verständnis, an seinem erhabenen Begriff des wahren Seins und des Einsseins Gottes und des Menschen. Kein bloßes menschliches Bemühen hätte sie auf solche Höhen führen können, hätte sie so ermutigen, ihnen ein solches Gefühl der Sicherheit geben können. Im letzten Teil ihrer Begriffsbestimmung für „Jerusalem“ führt Mrs. Eddy „Heimat, Himmel“ an. Und sie erklärt „Himmel“ (Wissenschaft und Gesundheit, S. 587) wie folgt: „Harmonie; die Herrschaft des Geistes; Regierung durch das göttliche Prinzip; Geistigkeit; Glückseligkeit; die Atmosphäre der Seele.“ In dieses Jerusalem kehrten die Jünger zurück, um die Erinnerung an die herrlichen Werke ihres geliebten Meisters in einem aufopfernden Leben wach zu halten.
Was für ein Friede, was für eine Klarheit doch durch die freudigen Tage zwischen der Auferstehung und der Himmelfahrt hindurchscheint! Er, der durch sein wunderbares Verständnis der dem Menschen ewig gegebenen Macht Gottes für alle Zeit den Stein von jeder einschließenden Annahme weggewälzt hat, setzte sein Wirken in der Liebe genau dort fort, wo Verfolgung und Haß versucht hatten, ihm ein Ende zu machen. In erhabener Demut und mit göttlicher Herrschaft trat der Meister bescheiden und furchtlos auf, wo er wollte, ungestört und ungehindert von denen, die ihn zu töten gesucht, aber ihm nur Gelegenheit gegeben hatten zu beweisen, daß das Leben nicht von der Materie oder von materiellen Gesetzen abhängt. Wir haben keinen Bericht, daß er auch nur mit einem Wort sich selber verherrlichte, sich selber bedauerte oder andere beschuldigte.
Jesus predigte nicht Kreuzigung, sondern Auferstehung. Alle Beweisgründe der Verfolgung, der Kreuzigung und des Todes hatten sein Bewußtsein des wahren Seins nicht trüben können. Keine Geißel, kein Nagel, keine Wunde hatte sein wahres Selbst berührt. Die verwundeten Hände und Füße, die er den Jüngern zeigte, waren durch diese Wunden nicht beeinträchtigt worden, daß er sie nicht gebrauchen konnte. Wie sie sich gefreut haben müssen, als er das Stück gebratenen Fisch und den Honig nahm und in ihrem Beisein aß! Wie sie sich gefreut haben müssen, als er den zweifelnden Thomas ohne Zögern hieß, er solle seine Hand in die Speerwunde legen, die die Menschen ihm so kurz zuvor beigebracht und mit der sie dem Leben ein Ende zu machen geglaubt hatten! Und Thomas rief aus: „Mein Herr und mein Gott!“ Er hatte nicht nur den Meister, sondern auch aufs neue Glauben an des Meisters Lehren gefunden, und die göttliche Tatsache des wahren Seins, das Einssein des Menschen mit Gott, berührt.
Während seines Wirkens hatte Jesus Leid und Müdigkeit gekannt, und er war sogar ergrimmt. Er war Krankheit und Sünde begegnet. Das letzte, was er noch am Kreuz heilte, war Sünde; das erste, was er nach der Auferstehung heilte, war Leid, das so oft der Vorbote von Krankheit ist. Die Tür, durch die die Furcht Verfolgung ausgeschlossen hatte, stellte kein Hindernis für ihn dar, der die Sinnlosigkeit von Furcht und Verfolgung bewiesen hatte; die fast hundert Kilometer, die Jerusalem vom Galiläischen Meer entfernt ist, bestanden nicht für ihn, dessen bewußtes Verständnis des Unendlichen keine Vorstellung von Trennung in sich schloß.
In selbstloser Hingabe bewies Jesus durch ein liebevolles Besorgtsein um andere die göttliche Liebe, da er wußte, daß sie des Menschen größtes Bedürfnis ist. Er drückte sich nicht immer gleich aus, sondern gab, wie in dem Fall, wo er seine verwundeten Hände und Füße zeigte, mit göttlicher Weisheit die Zeichen, die den menschlichen Sinn befriedigten, und führte sie von dort aus zu einem höheren Erfassen. Als die hungrigen Fischer an jenem hellen Morgen in Galiläa ans Land kamen, fanden sie ein Feuer und Frühstück bereit. Als sie gegessen hatten, waren sie befriedigt; aber Jesus ließ es nicht dabei bewenden. Als Höhepunkt jenes Morgenmahls schärfte er ihnen die wichtige Wahrheit ein, daß die Liebe allein dauernde Befriedigung gewährt und die einzig wahre Speise ist. „Hast du mich lieb?“ fragte er Petrus, der seine Liebe zum Meister leidenschaftlich beteuerte. Auf seine Versicherungen hin gebot ihm Jesus: „Weide meine Schafe!“
Jesus gebot Petrus, die nach der Wahrheit Hungernden mit der Liebe zu speisen, die von Gott ist, die auf keine Person beschränkt, sondern unparteiisch und allumfassend ist. Da der Meister wußte, daß eine Idee unvergänglich ist und ihren bleibenden Platz im Gemüt hat, äußerte er nicht selten eine Idee und ließ sie sich dann entfalten. Wir haben den Beweis, daß Petrus, als der Meister bei der Himmelfahrt wieder von den Jüngern schied, in der Tat zur Erkenntnis des wahren Begriffs von Liebe erwacht war. Da ihr Glaube gefestigt war, da sie Leid und Furcht aufgegeben hatten, da in ihr Denken Weisheit und in ihr Herz wahre Liebe gekommen war, trübte kein Gefühl des Verlustes, keine Äußerung des Leids diese Begebenheit. Sie hatten das unveräußerliche Einssein der Liebe und ihrer Idee erkannt, und sie, die tief betrübt gewesen waren, „kehrten wieder gen Jerusalem mit großer Freude.“ Sie hatten gezweifelt; aber nun „waren [sie] allewege im Tempel, priesen und lobten“ Gott, an dem sie gezweifelt hatten. Die Werke, die sie daraufhin taten, verbürgten und besiegelten die ihnen zuteil gewordene Erkenntnis.
Wenn der auferstandene Christus dem menschlichen Bewußtsein erscheint, erhebt sich wieder die Frage: „Was seid ihr so erschrocken?“ Man findet die Antwort im Verständnis der Auferstehung und der Himmelfahrt, da es zeigt, daß Gotteserkenntnis und ein wahrer Sinn der Liebe jeden sorgenvollen, leiderfüllten Einwand verdrängen und die Weisheit geben, die von Gott kommt. In „Miscellaneous Writings“ (S. 276, 277) finden wir die Zeilen: „In den schweren Stunden sind weise Christliche Wissenschafter Gott treuer denn je. Mit ihrer Liebe verbindet sich Weisheit, und ihr Herz erschrickt nicht.“