Im Evangelium des Matthäus (Kapitel 3) lesen wir, daß nach der Taufe Christi Jesu „der Geist Gottes gleich als eine Taube herabfuhr“ und auf ihm ruhte. Dann folgte der Segen: „Dies ist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe.“
Der Bericht sagt uns, daß Jesus nach diesem erhabenen Erlebnis „vom Geist in die Wüste geführt ward, auf daß er von dem Teufel versucht würde“ (Matth. 4, 1). Die Verfasserin hat oft über diese Stelle nachgedacht und zu verstehen gesucht, warum Jesus unmittelbar nachdem er Gottes Segen empfangen hatte, vom Bösen in Versuchung geführt wurde. Eines Tages fiel dann für sie das Licht der Wahrheit auf diese Stelle, wodurch ihr der Grund für das Erlebnis in der Wüste klar wurde.
Jesus war vom Heiligen Geist getauft worden. Er stand an der Schwelle einer herrlichen Laufbahn: er hatte die Ewigkeit des Lebens, die Allmacht der Wahrheit und die Allgegenwart der Liebe zu beweisen, indem er Krankheit und Sünde heilte und den Tod überwand. In jener Stunde war ihm wahrscheinlich mehr als je zuvor klar geworden, was seine Aufgabe war, und was für einem heiligen Vorhaben er sich widmete.
Der Christus, Jesu geistiges Selbst, weilt ewig im Schoße des Vaters und kennt keine Versuchung, keine Wüste, sondern nur die ewige Harmonie der Allheit Gottes. Jesus, der den Menschen in einer Gestalt erschien, die sie verstehen konnten, sollte die Menschheit herausführen aus dem materiellen Denken zu geistigem Verständnis, heraus aus dem Glauben, daß der Mensch ein kranker, sündiger, sterbender Sterblicher sei, zu der Wahrheit, daß der Mensch ewig das gesegnete Kind Gottes ist, an dem Gott Wohlgefallen hat. Er konnte dies nur dadurch tun, daß er Schritt für Schritt den Weg vom Sinn zur Seele, von der Erde zum Himmel, ging und dadurch unser Wegweiser wurde.
Wir haben über Jesu Jugendzeit nur einen kurzen Bericht. Die Verfasserin vermutet, daß Jesus sich zwar von Kind auf seiner himmlischen Aufgabe bewußt war, aber in dem ruhigen Leben bei Maria und Joseph, bei dem er als Zimmermann lernte, vielleicht vor den Versuchungen des sterblichen Gemüts bewahrt war. Und so hatte er zu Anfang seines Wirkens den Einwendungen des sterblichen Gemüts entgegenzutreten und sie zu meistern, ehe er seine wunderbare Arbeit unternahm.
Es war anzunehmen, daß Jesus persönlich verehrt werden würde; nachdem er diese Erscheinungsform der Verführung des sterblichen Gemüts aber vernichtet hatte, als er sagte (Matth. 4, 10): „Hebe dich weg von mir, Satan! denn es steht geschrieben: ‚Du sollst anbeten Gott, deinen Herrn, und ihm allein dienen‘“, konnte er persönliche Verehrung als Verkehrtheit erkennen. Nachdem er die Mangelannahme des sterblichen Gemüts durch das Verständnis zerstört hatte, daß „der Mensch nicht vom Brot allein lebt, sondern von einem jeglichen Wort, das durch den Mund Gottes geht“ (Vers 4), konnte er später eine Menge Menschen speisen. Auf Grund seiner Erkenntnis der Allmacht Gottes konnte er nicht in Versuchung kommen, sein Verständnis zu benützen, sich selber zu verherrlichen.
Der weise Kämpfer für Gott stürmt nicht in den Kampf mit einer Rüstung, die er nicht erprobt hat. Seine Waffe ist geistiges Verständnis, das ihn vor den anmaßenden Geltendmachungen des sterblichen Gemüts schützt. Durch seinen Gebrauch dieser Waffe beweist er die Allmacht und Allgegenwart Gottes, des Guten, und die sich daraus ergebende Machtlosigkeit jeder Geltendmachung des Bösen. Dies traf bei Jesus zu. Dadurch, daß er die Machtansprüche des Bösen am Anfang seines Wirkens überwand, konnte er seine Aufgabe erfüllen und Gott verherrlichen.
Auf Seite 597 im christlich-wissenschaftlichen Lehrbuch „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ bestimmt Mary Baker Eddy den Begriff „Wüste“ wie folgt: „Einsamkeit; Zweifel; Finsternis. Unmittelbarkeit des Gedankens und der Idee; der Vorhof, in welchem der materielle Sinn der Dinge verschwindet, und der geistige Sinn die großen Tatsachen des Seins zur Entfaltung bringt.“ Manchmal ist es nicht leicht zu verstehen, warum wir uns in einer Wüstenerfahrung befinden, besonders, wenn wir aufrichtig bestrebt waren, hingebender zu sein, den Christusgeist in größerem Maße auszudrücken. Wenn wir daran denken, wie Jesus die Versuchungen zum Bösen überwand, können wir uns in dunklen Stunden des Zweifels freuen. Durch den geistigen Sinn, der „die großen Tatsachen des Seins zur Entfaltung bringt“, können auch wir die Einwendungen des sterblichen Gemüts, die den Menschen nicht als geistig, sondern als materiell darstellen, überwinden.
Die Christliche Wissenschaft lehrt, was zu diesem Überwinden führt, nämlich, das beharrliche Behaupten, daß der Mensch eins mit Gott ist, und daß seine ewige Wohnstätte das Himmelreich ist, sowie das Zurückweisen der unwahren Geltendmachung, daß Gottes Idee eine Wüstenerfahrung durchmachen könne. Dadurch siegen wir über die falsche Einflüsterung, daß das Böse Macht habe. Dann verläßt uns der Teufel oder das Böse, und Engel, Gottes Friedens- und Freudebotschaften, erfüllen unser Bewußtsein mit der Erkenntnis, daß der Mensch als die Widerspiegelung Gottes vollkommen ist.
Wenn wir unerschütterlich am zweiten Teil der Bestimmung des Begriffs „Wüste“ — an dessen geistiger Bedeutung — festhalten, können wir unsere Erfahrung nicht als eine schmerzliche Anfechtung, sondern als eine herrliche Gelegenheit betrachten, von unserer Rüstung, unserem geistigen Verständnis, Gebrauch zu machen und durch Gehorsam, Geduld und Demut zu beweisen, daß wir der Christlichen Wissenschaft treu sind. Diese geistigen Eigenschaften sind Schrittsteine zu einem tieferen Verständnis der Allheit und Immergegenwart Gottes, und wir kommen, wenn wir sie festhalten, auf unserem Weg vom Sinn zur Seele schneller vorwärts.
Die Kinder Israel wurden durch die Wüste in das verheißene Land, „ein Land, darin Milch und Honig fließt“, geführt. So werden wir durch unsere Wanderung in der Wüste, durch die Finsternis der Materialität, in das Licht der Geistigkeit geführt. Wenn wir über die Versuchungen des sterblichen Gemüts siegen, beginnt für uns ein umfassenderes, vollständigeres Leben mit weiteren Gelegenheiten, Gott und der Sache der Christlichen Wissenschaft zu dienen, und wir erlangen jenen Frieden, der in der Tat höher ist denn alle Vernunft.
Wir können uns also freuen und in beständiger Erwartung des Guten an die herrliche Verheißung glauben (Wissenschaft und Gesundheit, S. 566): „Wie die Kinder Israel siegreich durch das Rote Meer, die dunkle Ebbe und Flut menschlicher Furcht, hindurchgeführt wurden — wie sie durch die Wüste geleitet wurden, mit müden Schritten durch die große Einöde menschlicher Hoffnungen wanderten und die verheißene Freude vorahnten, so wird die geistige Idee alle rechten Wünsche auf ihrem Weg vom Sinn zur Seele leiten, von einem materiellen Begriff des Daseins zu einem geistigen, hinan zu der Herrlichkeit, die denen bereitet ist, die Gott lieben.“