Die Christliche Wissenschaft gibt uns eine positive Versicherung der Erlösung von Sünde, Krankheit und Tod. In der absoluten Wahrheit ist es richtig, von der Erlösung als von etwas schon Vollendetem zu sprechen. Vor Gottes Augen ist alles Gute immer gegenwärtig. Aber es ist auch richtig, christlich und wissenschaftlich, für die Heilung und Erlösung der Menschheit zu beten und zu arbeiten. Die Erlösung des Menschen als eine vollendete geistige Tatsache wird von dem Propheten Jesaja erwähnt, welcher schreibt (43:1): „Nun spricht der Herr, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“
Doch Mrs. Eddy schreibt im christlich-wissenschaftlichen Lehrbuch „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ (S. 254): „Das menschliche Selbst aber muß mit dem Geist des Evangeliums erfüllt werden.“ Die christliche Einstellung Gott gegenüber gibt die Notwendigkeit der Evangelisierung zu. Diese zweifache Auslegung der Erlösung, die aus den beiden Zitaten hervorgeht, ist für den Christlichen Wissenschafter keineswegs widerspruchsvoll. Die Christliche Wissenschaft ist ihrem Wesen nach christlich. Sie bringt das menschliche Erfahren mit dem Göttlichen in Verbindung. Sie ist ebenfalls streng wissenschaftlich; denn sie gibt uns eine Richtschnur der Vollkommenheit als anerkannte und grundlegende Tatsache.
Jemand, der klar versteht, daß vollkommene Heilung oder Erlösung schon in seinem Bewußtsein stattgefunden hat, wird es nicht schwer finden, die Ansprüche der Materie — einschließlich derer des Raumes und der Zeit — zu überwinden. Christus Jesus besaß dies Verständnis und versetzte sich daher augenblicklich von einem Ort an den anderen. Im Johannesevangelium lesen wir (6:21): „Da wollten sie ihn in das Schiff nehmen; und alsbald war das Schiff am Lande, da sie hin fuhren.“ Er erstand auch vom Grabe, und nach seiner Auferstehung erschien er den Jüngern in seiner normalen körperlichen Gestalt.
Diese Erfahrungen beweisen endgültig, daß er seine Erlösung von der Materie und ihren sogenannten Gesetzen ausgearbeitet hatte, und dies befähigte ihn, seinen Nachfolgern zu versichern (Matth. 28:18): „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden.“
Das christlich-wissenschaftliche Lehrbuch, die Offenbarung der Wahrheit, zeigt ebenfalls, wie die Wahrheit Schritt für Schritt in der menschlichen Erfahrung demonstriert werden kann. Wenn wir eine Reise unternehmen, so ist unser Denken oft auf den Bestimmungsort gerichtet, dem wir zustreben. Unser Planen und Fahren zielt darauf, ihn so schnell wie möglich zu erreichen. Doch es wäre töricht zu behaupten, daß wir uns in einer Stadt befinden, so lange wir noch in einer anderen sind. Wenn jedoch unser Verständnis von der Allgegenwart des Geistes sich dem des Meisters näherte, so könnten wir sein, wo wir zu sein wünschten, ohne das Zeitelement oder den Widerstand der Materie. Die Methoden des Meisters schließen weder Magie noch Mysterium in sich, obwohl sie denen, die das geistige Sein nicht erfassen, mysteriös vorkommen mögen.
„Geist ist Gott,“ heißt es in der wissenschaftlichen Erklärung des Seins im christlich-wissenschaftlichen Lehrbuch (S. 468), „und der Mensch ist sein Bild und Gleichnis. Folglich ist der Mensch nicht materiell; er ist geistig.“ Enthält diese Erklärung nicht die absolute Wissenschaft, die, wenn sie demonstriert wird, alle Zustände der Zeit und des Raumes als dem Geiste untertänig beweist?
Die Evangelisierung des Denkens bedarf unserer besonderen Aufmerksamkeit. Wir dürfen nicht die menschlichen Schritte vernachlässigen, die notwendig sind, um das Ziel zu erreichen. Doch sollten wir anderseits auch nicht unsern Fortschritt hemmen durch eine Begrenzung unserer geistigen Fähigkeiten oder das Annehmen einer Richtschnur, die mehr menschlich als göttlich ist. Die Christliche Wissenschaft lehrt einen Gott, einen Christus, und einen zum Bilde Gottes geschaffenen Menschen. Bei solchen Richtmaßen ist kein Kompromiß möglich, und kein Abweichen davon ist zulässig.
Evangelisierung geht Hand in Hand mit Vergeistigung. Das Evangelium des Christentums steht nicht im Widerspruch zur Christlichen Wissenschaft — sie sind ein und dasselbe. In welchem Grade wir die absolute Wahrheit demonstrieren können, hängt von unserm Verständnis der geistigen Existenz ab. Die absolute Wahrheit mit ihren göttlichen Möglichkeiten, und ihren demonstrierbaren Gewißheiten ist bei uns und wird in endlosen Möglichkeiten geistigen Vollbringens enthüllt.
Menschen fühlen oft ein Verlangen, das Absolute zu erreichen, doch gleichzeitig ein Widerstreben, die Schritte zu tun, die zu solch einer Errungenschaft führen. Diese Tatsache wird in des Meisters Gleichnis von der köstlichen Perle vor Augen geführt; denn hier kann die Perle nur zu einem hohen Preise erlangt werden, nämlich, wenn der Käufer allen materiellen Besitz aufgegeben hat, um sie zu erwerben.
Das Christentum erzählt die Geschichte des Kreuzes — Selbstverleugnung, Aufrichtigkeit, Demut; doch das Kreuz erzählt die Geschichte des Sieges — Errungenschaft und Demonstration. Unser geistiges Verständnis offenbart uns die Stadt auf einem Berge, wo das Banner der Vollkommenheit gehißt ist. Kalter Intellektualismus ist wie ein Vorhang, der die geistigen Tatsachen des Lebens verhüllt, jedoch nicht die ursprüngliche geistige Weisheit vertilgen kann. Das göttliche Gemüt ist der Schöpfer, und seine Schöpfung ist hell und ewig in Schönheit, Gesundheit und Intelligenz.
Der ehrliche, strebende Christ wirkt durch die menschliche Erfahrung und scheut sich nicht, dies zuzugeben. Er erkennt die Schwachheiten seines menschlichen Selbst, und wenn er auch diesen Schwachheiten keine Macht einräumt, oder sie entschuldigt, so unterscheidet er doch klar zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen. Wenn es ihm zeitweilig nicht gelingt, die Wahrheit — „die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit“ — zu beweisen, so faßt er sich in Geduld und wandert freudig vorwärts.
Evangelisierung führt zu klarem Verstehen, und klares Verstehen bedeutet die Erkenntnis des Geistes, Gottes, als Alles-in-allem. Wir erlangen das Geistige in dem Maße, wie wir das Materielle aufgeben. Nur unsere Früchte können unsern Fortschritt beweisen. Wenn ein bescheidener Christlicher Wissenschafter zu einem Krankenbett geht und den Leidenden heilt, so ist er nicht weniger ein Wissenschafter als jener andere, der vielleicht die großen metaphysischen Tatsachen des geistigen Seins tiefer erfaßt hat. „Ich habe dich erlöst“ und „ich will dich erlösen“ sind die Botschaften, die Gott uns durch die Propheten sendet. Das erstere kommt durch geistige Erkenntnis, das letztere durch Evangelisierung.
Ohne das Verstehen, daß die Erlösung schon stattgefunden hat, könnten die Sterblichen in den Morast der Spekulation versinken. Ohne die demütige Erkenntnis, daß die Bekehrung und die Evangelisierung des menschlichen Selbst notwendig sind, gäbe es keine Hoffnung für die Menschheit. Also sollten wir sein wie sehnsuchtsvolle Wanderer, die ausschauen nach der himmlischen Stadt auf dem Berge, obgleich deren Erreichung noch so fern und fraglich erscheint. Laßt uns deshalb so schnell wie möglich diese Wanderung nach dem Geiste hin aufnehmen, doch laßt uns der absoluten Wahrheit eingedenk bleiben, daß wir in Gott, dem Geist, existieren; denn Gott ist Alles-in-allem, und der Mensch ist zu Seinem Gleichnis erschaffen.