Die Morgendämmerung kommt auf verschiedene Weise. Während sie sich im größten Teil der Welt allmählich ausbreitet, kommt sie in anderen Gegenden schnell, so wie es eine wohlbekannte Ballade mit folgenden Worten schildert: „. .. die Morgendämmerung kommt wie im äußeren China der Donner über die Bucht.“
Das Aufdämmern der geistigen Wahrheit im menschlichen Bewußtsein mag plötzlich als Heilung in Erscheinung treten, wenn man sich im Gebet an Gott wendet. Dies ist die natürliche christliche Art der christlich-wissenschaftlichen Behandlung, so wie bei Jesus, der das Wort sprach und die Kranken heilte. Aber oft machen wir die Erfahrung, wie Christliche- Wissenschafter wohl wissen, daß die Erleuchtung des Bewußtseins durch Gebet allmählich kommt, und zwar in dem Maße, wie das Menschliche für das Göttliche aufgegeben wird, und Gottes Macht sich in geistiger Klarheit dartut.
Ich erinnere mich an eine Morgendämmerung, die das illustriert. Meine Frau und ich fuhren nachts mit dem Wagen durch die kalifornische Wüste. Unsere Fahrt ging ostwärts. Etwa um vier Uhr morgens erschien ein schwaches, nebelhaftes Leuchten am östlichen Himmel, ein kaum wahrnehmbares Glühen. Dann sahen wir zur Linken ein seltsames Phantasiegebilde hoch oben am Himmel. Es war die hochaufragende schneebedeckte Spitze des Mount Whitney, die sich über die darunterliegende schwarze Masse erhob. Unsichtbar lag die Erde im Dunkel, das sich nach oben zu strecken schien, um die zarte Ornamentik zu berühren. Bald deutete ein zartes, orangefarbenes Glühen den Osten an. Schwache Strahlen in Gelb und Gold berührten die tiefhängenden Wolken, während das Morgenlicht die ganze Szene in zartes Rot hüllte und so das Aufgehen der Sonne ankündigte. Als wir uns dann umwandten, sahen wir, daß die violetten Berge sich ihrer nächtlichen Hülle entledigt hatten. Sie standen dort, klar umrissen in ihrer Erhabenheit, überwältigend in ihrer massiven, stolzen Schönheit, das Kommen eines neuen Tages verkündend.
Das Eintreten der Morgendämmerung versinnbildlicht die mit einer christlich-wissenschaftlichen Behandlung verbundene Entfaltung, welche die Anerkennung der universalen geistigen Vollkommenheit und der Nichtsheit des Bösen oder der Materie ist. Obwohl die Wahrheit unterschiedslos zu allen kommt, so ist ihr Erscheinen doch nicht immer spontan und augenblicklich. Man mag geneight sein, Worte der absoluten Wahrheit zu erklären, die noch die eigene Aufnahmefähigkeit übersteigen — Worte nur, ohne Bedeutung. Wenn auch unmittelbares Verstehen wünschenswert ist und oft erlebt wird, so ist es doch in andern Fällen die eigene mentale Arbeit, die die allmähliche Klärung des Bewußtseins bewirkt und zur Demonstration von Gottes allmächtiger Allheit führt. Eingedenk der Tatsache, daß die Natur gütig mit ihrem zarten Grün verfährt, niemals den Morgentau der sengenden Sonne aussetzt, erfassen wir, daß die aufwärtsgerichteten Schritte in unserem Bewußtsein zuweilen notwendig sind, um sich die Klarheit der eigenen geistigen Schlußfolgerungen zu sichern.
Es ist interessant, daß das Dämmern des Morgens durch nichts gehemmt oder verzögert werden kann. Es kommt allmählich, aber mit Sicherheit. Genau so sollte es mit unsern gebeterfüllten Überlegungen sein, wenn wir aus der Materie zum Geist erwachen. Doch sowohl der Neuling in der Christlichen Wissenschaft wie auch der erfahrene Arbeiter mag sich zuweilen beim Vergegenwärtigen von Gottes Nähe verwirrt und behindert vorkommen. Die durch den Irrtumsanspruch verursachten Schwierigkeiten mögen das Gefühl der Verwirrung noch erhöhen. Das menschliche Gemüt, in materielle Theorien verwickelt, aber dennoch nach Gott suchend, befindet sich in wechselnden Phasen der Verwirrung. In solcher Lage mögen die Erklärungen der Wahrheit, wie hilfreich sie auch in einem Falle sein mögen, doch wirkungslos in einem andern scheinen. In dieser Not mag man in Gedanken mit dem Psalmisten ausrufen (Ps. 22:1): „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Die Antwort auf solch flehendes Fragen ist nicht schwer zu finden. Beim Überwinden des Irrtums sollte man dort beginnen, wo der Irrtum vorgibt, Einfluß auf das Denken zu haben, ganz gleich ob es sich um Niedergeschlagenheit, Zweifel, Unfähigkeit, Verurteilung oder Furcht vor dem aggressiven Bösen handelt. Wie im Rechtsverfahren, so sollte man sich auch hier mit der Kernfrage auseinandersetzen. Die Erklärungen der Wahrheit sollten gewechselt werden und darauf gerichtet sein, dem speziellen Anspruch des Bösen entgegenzuwirken. Ebenso wie sich niemals zwei Morgendämmerungen genau gleichen, so mag auch eine verschiedenartige Behandlungsweise erforderlich sein, die davon abhängt, ob Furcht oder Verwirrung im Denken vorherrscht. Jesu Ruf auf Golgatha — ein Widerhall des Psalmisten — war das inständige Flehen an Gott um Hilfe, daß sein Lebenswerk nicht verloren werde; bei seiner Verklärung dagegen, war Jesu Gemeinschaft mit Gott erhaben, den Höhen seines reinen Verständnisses entsprungen.
Gleich den Strahlen des Morgenlichtes steigen geistige Gedanken empor, und zwar infolge von Verständnis und Inspiration. Man muß sich Gott von dem Gesichtspunkt aus nähern, der einem jeweils am klarsten ist und so Schritt für Schritt die erhabene Auffassung von Gottes Allheit erlangen, wo es keinen Irrtum gibt. Behandlung oder Gebet in der Christlichen Wissenschaft wird durch Aufwärtsentwicklung charakterisiert. Jesus verlangte nicht, daß der letzte Schritt zu Anfang getan werde. Beachten Sie das Gebet des Herrn, das mit „Unser Vater“ beginnt, einer Anrede inniger Zuneigung, die väterliches Verständnis für unsere Nöte andeutet. Wenn wir so am Gebet anhalten, wird das Denken für die Erkenntnis der absoluten, geistigen Vollkommenheit bereit, die in den Worten zum Ausdruck kommt: „Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit“.
Die Natur Gottes ist von absoluter Vollkommenheit. Dies kommt in Habakuks Worten vorzüglich zum Ausdruck (1:13): „Deine Augen sind rein, daß du Übles nicht sehen magst, und dem Jammer kannst du nicht zusehen.“ Dennoch mag, obwohl man Gott als vollkommenes Prinzip erklärt, das nichts Böses kennt, doch die äußerste Notlage, in der man sich befindet, sehr wirklich und der Ausgang zweifelhaft erscheinen. Und doch sollte man sich gerade in solchem Augenblick Gott nahe und unter Seiner verständnisvollen Obhut fühlen. Obwohl die absolute und universale Natur Gottes oder des Prinzips uns dieser Nähe versichert, bleibt es doch unser Werk, uns dieser Nähe bewußt zu werden. Als bewußt denkende Wesen haben wir die Verpflichtung dazu. Warum es in manchen Fällen nicht klar zu sein scheint, mag daher kommen, daß wir zwar erklären, Gott sei zu vollkommen, um Übles zu sehen, dennoch aber glauben, der Mensch sei zu materiell, um Vollkommenheit wahrzunehmen.
Dann ist der Augenblick gekommen, daß wir imstande sein sollten, innigere Gemeinschaft mit Gott in stillen Bittgebeten zu finden, damit Er unser Denken leiten, unsere Furcht beschwichtigen, unsere Entschlüsse stärken und die Fenster unsere Verständnisses öffnen möge. In der göttlichen Wissenschaft kennt Gott unsere Not und hilft ihr ab. Gottes Gedanken erreichen uns, wo immer wir sind, und in der Weise, in der wir ihrer bedürfen. Unser großes Bedürfnis ist, uns Seiner allumfassenden Gegenwart und Fürsorge bewußt zu werden.
Obwohl Gott absolut und vollkommen ist, so hindert uns das doch nicht daran, Ihn demütig und inständig um Befreiung von Furcht und Zweifel zu bitten. Unsere größte Not ruft Seine größte Fürsorge an. Das all-hörende Gemüt ist einem solchen Ruf zugänglich und erhört ihn, indem es der Liebe Gewißheit verleiht. Im stillen Gebet der Vermittlung, dem Gebet der Fürbitte und Hilfe kann unser sehnendes Herz Gottes barmherzige Antwort empfinden und verstehen. Am Ende eines mühevollen Tages, angefüllt mit Schwierigkeiten, betete unsere Führerin Mary Baker Eddy in dieser Weise: „O Vater, wie müde Kinder wenden wir uns an Dich; Du wirst uns nicht Waisen lassen“ (Mary Baker Eddy: ein lebenswahres Bild von Lyman P. Powell, Ausgabe 1933, S. 244).
Das Gebet der Fürbitte wandelt nicht Gott, sondern uns um. Es verändert unsere Methoden. Es klärt unsere Ziele, macht unsere Beweggründe bescheiden und reinigt unsere Wünsche. Um aber ein solches Gebet wirksam zu machen, mag es nötig sein, daß wir mit den einfacheren Vorstellungen von Gott als unserem Helfer beginnen — sozusagen mit dem Einmaleins der Christlichen Wissenschaft. Dann mögen wir uns erheben in dem Verständnis von Ihm als allem wahren Bewußtsein, das weder Böses, Sünde noch Tod kennt. Dieses Gebet vermenschlicht Gott nicht, sondern es vergeistigt unser Denken.
Wir geben hier ein Beispiel des fürbittenden Gebetes und des Verlangens nach Gott. Eine Frau, die an der Küste des Stillen Ozeans lebt, berichtete folgendes:
„Der heiße Ostwind, der über die Wüste hinstreicht und der Seebrise ihre erfrischende Kühle nimmt, wird in dem Anbaugebiet der Orangen- und ähnlicher Obstbäume, in dem ich wohne, und mit dessen Kultur und Handel meine Familie verknüpft ist, als die ungünstigste und unheilbringendste Wetterbedingung angesehen. Eines Nachts wurde ich durch ein Klappern und Klirren geweckt, was mir anzeigte, daß der vernichtende Wind eingesetzt hatte und Früchte und Blätter der Orangenbäume bedrohte. Als ich zum Fenster ging, um es zu schließen, und mir die Hitze wie eine sengende Glutwelle entgegenschlug, mußte ich an die Bäume dieses Anbaugebietes denken. Und während ich noch hinaussah, überkam mich große Angst; in meiner Not flehte ich zu Gott um Hilfe.
Dann dachte ich an Jesus, als er sich erhob, um den Sturm auf dem Meere zu stillen. Und plötzlich wußte ich mit Überzeugung, daß dieselbe Kraft, die er angewendet hatte, dieselbe Wahrheit, die er verstanden hatte, durch Mrs. Eddys empfängliches Bewußtsein als Offenbarung der Christlichen Wissenschaft in die Welt gekommen war. Dann fiel mir die Bibelstelle ein (Jes. 11:9):, Man wird nirgend Schaden tun noch verderben auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land ist voll Erkenntnis des Herrn, wie Wasser das Meer bedeckt‘.
Ich setzte meine mentale Arbeit fort und wandte mich durch diesen und andere hilfreiche Gedanken aus der Bibel an Gott. Später war es mir dann möglich, die wissenschaftlichen Tatsachen klarer zu erkennen und zu dem Irrtum zu sprechen:, Du kannst keine Wirkung haben, weil du keine Ursache bist‘.
Ich konnte meine Furcht überwinden und während dieser Nacht dachte ich eine Weile gar nicht mehr daran. Am Morgen fiel mir auf, in welch guter Verfassung die Bäume auf dem Grundstück meiner Kinder waren. Sichtbar hatte die Zerstörung fast genau auf der Grenzlinie ihres Besitztums Halt gemacht. Als ich auf der Veranda ihres Hauses auf dem Hügel hoch über dem Obstgarten stand, wurde ich auf einen einzigen Baum aufmerksam gemacht, einen unter Tausenden oder mehr, dessen Krone leicht beschädigt war. Dieser offensichtliche Schutz der Pflanzung wurde von vielen Plantagenbesitzern der Gegend wahrgenommen. Ich hörte, wie sie versuchten, eine Erklärung dafür zu finden, warum diese Bäume wohl unbeschadet geblieben waren.. .. Wir gaben dem Vater die Ehre und dankten Ihm für Seine Güte und Seinen Schutz.“
Die christlich-wissenschaftliche Behandlung beruht auf dem Verständnis, daß Gott absolut ist, und auf einer sich immer weiter entfaltenden Erkenntnis Seiner Allheit. Zu wissen, daß Gott unser Trost ist und uns durch die Größe Seiner Liebe erreicht, daß Er dem Reuigen vergibt und unser Denken regiert, daß Er unsere aufwärtsstrebenden Schritte leitet und sichert, ist eine relative und trotzdem wissenschaftliche Art der Behandlung. Es ist der zeitweilige Schimmer, der uns unsere geistige Einheit mit Gott und die absolute Vollkommenheit Seiner unendlichen Natur begreifen läßt.
Eine Stelle aus Mrs. Eddys Schriften zeigt das Aufdämmern des geistigen Denkens in der Behandlung und seinen Höhepunkt in der Demonstration durch die zum Ausdruck gebrachte Liebe des Vaters (Unity of Good, S. 4): „Sich zeitweilig des Gesetzes Gottes bewußt werden, heißt, in einem gewissen endlichen, menschlichen Sinne fühlen, daß Gott zu uns kommt und sich unser erbarmt; erlangen wir aber durch die Wissenschaft Gottes das Verständnis Seiner Gegenwart, so vernichtet dies unseren Sinn der Unvollkommenheit oder die Vorstellung Seiner Abwesenheit durch einen göttlicheren Sinn, daß Gott alles wahre Bewußtsein ist. Dies überzeugt uns, daß in dem Maße, wie wir Ihm noch näher kommen, wir unser eigenes Bewußtsein des Irrtums für immer verlieren müssen.“