Ein Christlicher Wissenschafter trachtet danach, ein heilendes Bewußtsein zu bewahren. Der Psalmist verleiht diesem Streben in folgenden Worten Ausdruck (Ps. 51:12, 15): „Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz und gib mir einen neuen gewissen Geist. ... Ich will die Übertreter deine Wege lehren, daß sich die Sünder zu dir bekehren.“
Um dieses von dem Psalmisten ersehnte Bewußtsein zu erlangen, muß man sich der niederreißenden Kritik enthalten, die nicht heilt. Wahre Kritik dagegen entdeckt die Vorzüge sowohl wie die Unzulänglichkeiten. Eine der Funktionen der Kritik besteht darin, die Geschehnisse zu bewerten, und das sollte zu Berichtigung und Heilung führen. Daher braucht die Kritik als solche nicht aufgegeben zu werden. Nur vor der niederreißenden Kritik sollte man sich hüten. In der Christlichen Wissenschaft wird das Richten und Untersuchen auf die fundamentale Wahrheit begründet, daß das göttliche Gemüt alle Dinge so vollkommen sieht, wie es sie erzeugt hat. Und da das eine vollkommen gute Gemüt das einzige Gemüt des Menschen ist, gibt es in Wirklichkeit kein Gemüt, das den Wunsch hat, in niederreißender Weise zu kritisieren.
Unser Beweggrund bei der Beurteilung des Denkens ist immer nur zu heilen. Den Irrtum wahrhaft zu erkennen, bedeutet, seine Unwirklichkeit so klar zu verstehen, daß er aus dem Denken ausgeschaltet wird. Die Kritik, die gleichbedeutend mit wahrer Beurteilung ist, macht das Böse unpersönlich und führt es auf eine falsche Annahme zurück. Sie bestätigt damit, daß alles, was wirkliche „Gegenwart“ besitzt, gut ist, und erlaubt dem Irrtum nicht, das Gute zu verbergen. Herabsetzende Kritik dagegen bläst den Irrtum auf. Sie neigt dazu, dem, was wir mißbilligen, Wirklichkeit beizumessen. Wer eine Neigung zu solcher Kritik hat, bedarf der Erleuchtung. Dann wird das Unwirkliche ihm nicht mehr wirklich erscheinen. Wie treffend erklärt Mary Baker Eddy das in ihrem Buch „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“, wenn sie sagt (S. 403): „Du bist Herr der Situation, wenn du verstehst, daß das sterbliche Dasein ein Zustand der Selbsttäuschung ist und nicht die Wahrheit des Seins.“ Nur wenn wir willens sind zuzugeben, daß alles, was uns ärgerlich vorkommt, nur ein Zustand der Selbsttäuschung ist — eine individuell aufgenommene, mesmerische Suggestion — sind wir imstande, „Herr der Situation“ zu sein.
Ein Ausüber sagte einmal zu jemand, der einen Freund scharf kritisierte: „Du tust dir selbst wehe mit Willi.“ Der Irrtum versuchte, den Christus in seinem Bewußtsein zu entthronen, indem er Willis Irrtum als wirklich ansah. Diejenigen, die absprechend urteilen, sehen den Christus nicht. Sie machen es sich selbst schwer, denn sie sehen nicht wirklich ihren Bruder, sondern des sterblichen Gemüts falsche Auffassung von ihm.
Das Handeln eines andern zu verunglimpfen oder seine Beweggründe anzuzweifeln, stellt nicht die christliche Art und Weise dar, den Irrtum zu zerstören, sondern die Methode des tierischen Magnetismus, ihn einem anzuheften. In Gedanken den Fehlschlag eines andern zuzugeben, bringt eine Rückwirkung bei uns selbst hervor und schwächt unsere eigene Verteidigung gegen das Böse. Ein rechter Gedanke, der dem andern in der Stunde der Not — je nach der Führung des Gemüts im Stillen oder hörbar — gewidmet wird, hilft ihm und uns. Auch ist es ein Trugschluß zu glauben, daß ein böser Gedanke einem guten Gedanken an Macht gleichkommt. Wenn ein individuelles Bewußtsein größtenteils von bösen Gedanken erfüllt zu sein scheint, so braucht uns das nicht zu entmutigen. Das Böse ist nur eine Suggestion und ist nicht tatsächlich gegenwärtig. Falsche Annahmen können niemals in das Bewußtsein des Gottesmenschen eindringen oder es beeinflussen. Ein einziger rechter Gedanke genügt, um sie zu verscheuchen, so mächtig ist die Wahrheit.
Wenn ein Mitglied einer Zweigkirche vor Jahren einen Fehler begangen hat, so sollte dieser Irrtum jetzt nicht mehr gegen ihn gehalten werden. Wir sollten uns fragen: „Was erwarten wir zu sehen? Denselben Irrtum, der früher in Erscheinung trat, oder den wirklichen Menschen, der niemals in das Böse verfallen war?“ Wir werden fortschreitend unsere Verbundenheit, ja unser Einssein mit Gott beweisen, wenn wir aufhören, den Irrtum mit dem Menschen zu identifizieren.
Geschäftsleute schreiben manchmal einem einzigen Fehler, der gemacht worden ist, Macht zu. Absprechende Kritik eines bestimmten Menschen mag dazu führen, eine nicht einkömmliche oder unharmonische geschäftliche Entwicklung eines sonst nutzbringenden Unternehmens dieser einen unweisen Handlung zuzuschreiben. Es wäre viel besser, daran festzuhalten, daß kein Irrtum das Rechte hindern oder aufhalten kann. Solche Einstellung wird beweisen, daß unter der weisen Regierung der Liebe kein Verlust oder Rückschritt stattfinden kann. Ja, im göttlichen Weltall kann es keine unvollendeten Unternehmen geben. Alles ist Gottes unfehlbarer Herrschaft unterworfen. In Wirklichkeit gehen alle rechten Unternehmungen und Geschäfte im Himmel vor sich. Die einzige Kraft, die Wirkungen hervorbringen kann, ist das Gute; das einzige Gesetz ist Gottes unwiderstehliches Gesetz der Gerechtigkeit. Die einzigen daran Beteiligten sind die Kinder Gottes, die eins sind mit dem Vater, und die von der Liebe geleitet und von dem Gemüt erleuchtet werden.
Aus dem Folgenden ist zu ersehen, daß derjenige, der die Christliche Wissenschaft in seinem eigenen Leben betätigt, auch anderen am erfolgreichsten helfen kann. Eine Patientin sprach unnötigerweise lange über gewisse Disharmonien. Der Ausüber protestierte schließlich: „Sie haben jetzt zwanzig Minuten lang über Irrtum geredet“ — was sie jedoch keineswegs davon abhielt, damit fortzufahren. Als der Ausüber seinen eigenen Unwillen merkte, wurde ihm gleichzeitig klar, daß solch ein Zustand der Erregung keineswegs ein Verweilen in einem heilenden Bewußtsein bedeutete. Schnell berichtigte er sein Denken und war dann imstande, seiner Patientin zu helfen; und die Erinnerung an dieses Erlebnis ist ihm bei anderen Gelegenheiten von großem Nutzen gewesen.
Es ist widersinnig, über die Fehler eines anderen aufgebracht zu sein. Der Mensch ist unempfänglich für das Böse. Wenn man sich das klarmacht, ist man gefeit gegen die verwirrenden und unharmonischen Reaktionen, die einen dazu bringen möchten, der ungerechten Kritik des sterblichen Gemüts zuzustimmen. Ja man weiß, daß derselbe Irrtum, der den Bruder verleitet, unweise zu handeln, auch einen selbst beeinflussen würde, an das Unrecht zu glauben. Man freut sich vielmehr zu wissen, daß der tierische Magnetismus keine derartigen Unwahrheiten erzeugen noch in Erscheinung treten lassen kann wie diese, die sich nun scheinbar Geltung zu verschaffen suchen. Das eine vollkommene Bewußtsein, Gott, hat keine Kenntnis vom Bösen. Es ist unverletzbar. Dies unfehlbare Gemüt ist das einzige Gemüt. Der Mensch Gottes ist sich nur des Guten bewußt; dieser Mensch kann unmöglich einen bösen Gedanken hegen, und es ist tröstlich zu wissen, daß böses Denken immer falsch ist und niemals Wirklichkeit erlangt.
Wenn jemand, der reizbar oder überkritisch veranlagt zu sein scheint, verstehen lernt, daß nur sein eigenes Denken berichtigt werden muß — so gewinnt er an Sicherheit. Warum? Weil er dann richtigerweise das Problem auf eine Suggestion zurückgeführt hat, die sein Denken zu beeinflussen sucht. Er kann ihm jetzt wirkungsvoll entgegentreten, denn er ist immer der Herr seines eigenen Denkens. Hierin beruht die Wirkungskraft gesunder Kritik, die die Vorspiegelungen des Irrtums durchschaut und sich weigert, das Denken von dem immer gegenwärtigen Christus ablenken zu lassen.
Man hat es ja doch immer nur mit dem zu tun, was die eigene Auffassung der Dinge zu sein scheint, nicht mit äußeren Umständen. Wenn einem daher der Irrtum wirklich erscheint, man aber ein guter Kritiker zu sein wünscht, so sollte man sich selbst analysieren. Wenn man von einem menschlichen Standpunkt aus urteilt, mag das Ergebnis unbefriedigend sein. Doch der geistige Sinn hilft uns, dadurch nicht beschämt oder bedrückt zu sein, sondern zu begreifen, daß das Böse, selbst wenn es behauptet, unser eigenes Denken zu sein, niemals wirklich existiert hat. Die Inspiration, die diese Suggestionen als unwirklich und hypnotisch aufdeckt, befähigt uns, sie zu berichtigen und dann, unberührt davon, weiterzuwandern.
Wenn wir unser wahres Selbst prüfen, das heißt, wenn wir uns selbst sehen, wie das göttliche Gemüt uns sieht, werden wir die Harmonie, Heiligkeit und Vollkommenheit finden, die Gott dem Menschen verliehen hat. Wahre Kritik erfordert wissenschaftliches und beständiges Festhalten am Guten, an der unbefleckten Vollkommenheit des Menschen als des Kindes Gottes. Wir haben gottverliehene Macht, unser Denken auf das Gute gerichtet zu halten und alles zu erkennen und zu lieben, was tatsächlich in anderen und in uns selbst gegenwärtig ist. Paulus faßt alle wahre Kritik in folgender Weise zusammen (2. Korinther 13:5): „Versuchet euch selbst, ob ihr im Glauben seid; prüfet euch selbst! Oder erkennet ihr euch selbst nicht, daß Jesus Christus in euch ist?“
Doch die Frage mag aufgeworfen werden: Wie kann ich äußere Umstände berichtigen durch bloße Selbstprüfung und gerechte Beurteilung anderer? Die Antwort lautet, daß das, was wir äußere Umstände nennen, nicht das menschliche Bewußtsein beherrschen kann, das von dem Christus regiert wird — sondern gerade umgekehrt. Das menschliche Bewußtsein bekundet sich in dem, was menschliche Erfahrung oder Entfaltung genannt wird. Wenn man sich ernstlich bemüht, jeden dem Christus unähnlichen Gedanken zu berichtigen, so kennt und benutzt man die Gedanken Gottes, die nie verfehlen, den Irrtum zu verscheuchen. Das Augenlicht ist wieder hergestellt und hartnäckige Krankheiten sind geheilt worden, wenn Menschen die Tadelsucht aufgaben, die den Irrtum des Mitmenschen für wirklich hält, und sich ehrlich bestrebten, ihr eigenes Denken zu prüfen und zu bessern.
Das Gute wird niemals ärgerlich. Wenn wir uns über das Böse, das ein anderer zum Ausdruck bringt, ärgern, so muß dieser Ärger geheilt werden; denn wenn unser Bewußtsein von dem Christus erleuchtet wird, so erkennt es, daß der Irrtum machtlos ist und kein Teil des Menschen. Im Reiche Gottes gibt es nichts, das Entrüstung hervorrufen könnte. Mrs. Eddy schreibt (Wissenschaft und Gesundheit, S. 91): „Johannes erzählt uns in der Offenbarung von einem neuen Himmel und einer neuen Erde.“ Und sie fügt diese Frage hinzu: „Hast du dir jemals diesen Himmel und diese Erde ausgemalt, von Wesen bewohnt, die unter der Herrschaft der höchsten Weisheit stehen?“
Auszuschauen auf das Weltall mit dem Gemüt des allmächtigen Gottes, bedeutet, alles zu sehen, was wahrgenommen oder zum Ausdruck gebracht werden kann. Dann wird erkannt werden, daß das eine Gemüt alles regiert, und daß das Gute sich dem göttlichen Gesetz gemäß entfaltet. Die eine allumfassende göttliche Gegenwart schließt die tatsächliche Existenz von irgend etwas anderem aus. Alles, was wirklich existiert, geht von Gott aus und ist gut. Wir geben uns dem unwürdigen Kritisieren hin, wenn wir verleitet worden sind, der Annahme des sterblichen Gemüts beizustimmen, daß etwas außer dem Guten stattfindet.
Das vergeistigte Denken ist so vollständig in der unendlichen Güte Gottes verankert, daß es die Unwirklichkeit des Bösen demonstriert. Das ist die wissenschaftliche Bewertung, das rechte Gericht der wahren Kritik, das die Irrtümer der Annahme aus sich selber und anderen austreibt und das heilt.
 
    
