„So ihr das königliche Gesetz erfüllet nach der Schrift:, Liebe deinen Nächsten wie dich selbst,‘ so tut ihr wohl.“ So schreibt Jakobus „der Gerechte“, einer der Brüder Jesu (2:8). Und dann fährt er fort: „Denn so jemand das ganze Gesetz hält und sündigt an einem, der ist's ganz schuldig.“
Es mag uns schwer fallen, das königliche Gesetz zu erfüllen. Doch es gibt keinen Ausweg, gleichviel ob wir mit einem schwierigen Angehörigen, einem dominierenden Kirchenmitglied, einem falschen Freund oder einem widerwärtigen Fremden zu tun haben.
Es mag dem menschlichen Sinn sehr streng erscheinen, daß jemand, der im allgemeinen das Gesetz beherzigt und befolgt, jedoch in einem einzigen besonderen kleinen Punkt gefehlt hat, der Übertretung des ganzen Gesetzes schuldig befunden werden soll. Doch werden wir im Gebet des Herrn gelehrt zu beten, daß unsere Schulden vergeben werden mögen in dem Maße, wie wir anderen vergeben. Gleich nachdem der Meister seinen Jüngern dieses Gebet gegeben hatte, fügte er hinzu (Matth. 6:14, 15): „So ihr den Menschen ihre Fehler vergebet, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wo ihr aber den Menschen ihre Fehler nicht vergebet, so wird euch euer Vater eure Fehler auch nicht vergeben.“
Unser großer Beispielgeber erlebte die Himmelfahrt, weil er verstand, daß das ganze Weltall göttlicher Schöpfung geistig und vollkommen ist. Hätte Jesus an einem materiellen Begriff von irgend etwas festgehalten, so hätte er nicht, sinnbildlich gesprochen, über die angenommene Grenze zwischen der Materie und dem Geist hinüberschreiten können. Das erforderte absoluten, fehlerlosen Gehorsam gegenüber dem königlichen Gesetz. Die Christlichen Wissenschafter bestreben sich, diesem höchsten Vorbild Jesu zu folgen.
Mary Baker Eddy schreibt in ihrem Buch, „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ (S. 476): „Jesus sah in der Wissenschaft den vollkommenen Menschen, der ihm da erschien, wo den Sterblichen der sündige, sterbliche Mensch erscheint. In diesem vollkommenen Menschen sah der Heiland Gottes eignes Gleichnis, und diese korrekte Anschauung vom Menschen heilte die Kranken.“ Es ist bedeutsam und wichtig zu bemerken, daß unsere Führerin die Worte „diese korrekte Anschauung vom Menschen“ gebrauchte, denn nur durch eine rechte Auffassung von unserem Nächsten wird es uns möglich, das Gebot der Vergebung zu befolgen.
Es ist eine bekannte Tatsache, daß in der Christlichen Wissenschaft ein Kirchengebäude nicht eingeweiht werden darf, bis es vollkommen schuldenfrei ist. Ein Christlicher Wissenschafter kann nicht erwarten, den wahren Zustand der Hingabe oder der Weihe an Gott, Seinen Christus oder die christlich-wissenschaftliche Bewegung zu erlangen, bis er völlig schuldenfrei im geistigen Sinne ist, wie dies von dem königlichen Gesetz und dem Gebet des Herrn gefordert wird.
Es mag uns helfen, besser zu verstehen, was notwendig ist, um diese Angemessenheit des Denkens zu erlangen, wenn wir über die Erklärung des Meisters Philippus gegenüber andachtsvoll nachsinnen (Joh. 14:9): „Wer mich sieht, der sieht den Vater.“ Und dann wiederum sollten wir nachdenken über die Bemerkung unserer Führerin, wo sie sich in ihrer Predigt „Christian Healing“ (Christliche Heilung, S. 8) auf Plato bezieht, welcher sagte: „Was du siehst, das bist du.“ Wahrlich ist es wichtig, unser Sehen zu bewachen.
Die Wichtigkeit, „diese korrekte Anschauung vom Menschen“ aufrecht zu erhalten, kann nicht zu sehr betont werden, da diese gerade das königliche Gesetz erfüllt: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Wer einen andern als geringer als das Ebenbild Gottes ansieht, verunglimpft sein Schauen von der Vollkommenheit seines eigenen wahren Seins. Wir sollten dessen eingedenk bleiben, daß das Gebet des Herrn zeigt, daß unsere Schulden nur in einer Weise vergeben werden können. In den Worten eines schönen Liedes (Liederbuch der Christlichen Wissenschaft, Nr. 179):
„,Liebet einander‘ — Offenbarungsworte !
Liebe macht frei und froh, öffnet jede Pforte.
Liebe, des Meisters Pfad,
Führt zu Gottes ew’ger Gand’;
Lieb’ ist der hehre Weg.“
Eine Erfahrung, die wir vor einigen Jahren hatten, liefert hier eine hilfreiche Veranschaulichung dieser Regel. Mein Sohn telefonierte nach Hause aus einer Entfernung von etwa 20 Meilen, um uns zu sagen, daß auf einer langen Radfahrtour, während er in einem Gasthaus an der Landstraße einen Imbiß zu sich nahm, sein Fahrrad verschwunden sei. Zu jener Zeit schien eine Epidemie solcher Fälle zu herrschen. Ich erkannte, in welch schwieriger Lage der Junge dort ohne Fahrgelegenheit war, und wie beunruhigt er wegen des scheinbaren Verlustes seines neuen Fahrrades sein mußte, und wandte mich an Gott, um ihm zu helfen.
Augenblicklich kamen mir die folgenden Engelsgedanken: Daß es in dem ganzen Reich des Wirklichen keinen Übeltäter gibt, daß ich daher den Menschen als geistig erkennen mußte; daß das sterbliche Gemüt keinerlei Macht hat; und daß der Mensch nicht irgendeines Dinges beraubt werden kann, dessen er bedarf.
Das Ergebnis hiervon war, daß nach wenigen Minuten dem Jungen Fahrgelegenheit bis nach Hause angeboten wurde. Vier Tage später wurde das Fahrrad wiedererlangt. Man sollte beachten, daß die Wahrheitsgedanken, die zu der Zeit festgehalten wurden, sich nicht auf ein Fahrrad bezogen. Gott, Geist, nichts von der Materie.
Jesus sah keinen Übeltäter, sondern nur den „vollkommenen Menschen“, der mit ihm im Paradies sein würde, wo es keine Stätte für Übeltäter gibt. Wir folgen dem Meister also nur durch absolute Erfüllung des königlichen Gesetzes: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“
