Es ist möglich, in einem religiösen Sinne fromm und doch nicht geistig gesinnt zu sein; aber „geistig gesinnt“ zu sein ist die Forderung des Christentums und es sollte das Ziel aller Christen sein.
Das große Hindernis, das der geistigen Gesinnung entgegensteht, ist die Neigung und vielleicht sogar die Willfährigkeit, bei der Betrachtung der Natur des Geistes auf halbem Wege stehen zu bleiben. Der Geist ist unendlich; wir alle stimmen darin überein, doch wir sind nicht alle derselben Ansicht darüber, was die Unendlichkeit des Geistes alles einschließt. In ihrem Buch „Wissenschaft und Gesundheit“ schreibt Mrs. Eddy (S. 336): „Allheit ist das Maß des Unendlichen, und nichts Geringeres kann Gott ausdrücken.“ Da der Geist Alles-in-allem ist, kann er kein Gegenteil haben. Wenn wir zugeben würden, daß der Geist ein Gegenteil hat, würden wir in der Tat seine Unendlichkeit, seine Allheit, leugnen. Dann würde es den Geist geben und überdies noch etwas anderes.
Die Lehren der Christlichen Wissenschaft gründen sich auf diese grundlegende Tatsache der Unendlichkeit des Geistes. Für die geistigen Bedürfnisse der Menschen Sorge zu tragen ist daher nicht unbedingt gleichbedeutend mit dem, was allgemein als Seelsorge — die Sorge für ihre religiösen Bedürfnisse — bezeichnet wird. Für die geistigen Bedürfnisse wird gesorgt, wenn die Menschen dazu angeleitet werden, geistig — von dem Standpunkt aus, daß der Geist Alles-in-allem ist zu denken. Das bedeutet selbstverständlich aufzuhören, ungeistig, nämlich materiell, zu denken.
Da der Geist unendlich ist, gibt es nichts außerhalb desselben oder ihm Entgegengesetztes. Weil der Geist allumfassend ist und alles in sich schließt, erfüllt er allen Raum und ist daher überall gegenwärtig. Infolgedessen ist die Materie, das mutmaßliche Gegenteil des Geistes, nirgendwo gegenwärtig, überall abwesend.
Lediglich anzuerkennen, daß der Geist existiert, mag uns von einem religiösen Standpunkt aus befriedigen und ist natürlich ein großer Schritt vorwärts. Solch eine Anerkennung zeigt eine Bereitschaft und eine Fähigkeit, etwas anzunehmen, das jenseits des Wahrnehmungsvermögens der materiellen Sinne besteht und darüber hinaus geht. Doch von einem wissenschaftlichen Standpunkte aus ist das nicht ein Punkt, an dem wir stehenbleiben können. Die Wissenschaft fordert, daß wir den Weg bis ans Ende gehen, eben bis zu dem Punkt, wo wir anerkennen, daß es, da der Geist Alles-in-allem ist, keine Materie geben kann.
Von diesem wissenschaftlichen Standpunkt aus hat unsere Führerin uns die von ihr als die „wissenschaftliche Erklärung des Seins“ bezeichnete Definition gegeben (ebd., S. 468): „Es ist kein Leben, keine Wahrheit, keine Intelligenz und keine Substanz in der Materie. Alles ist unendliches Gemüt und seine unendliche Offenbarwerdung, denn Gott ist Alles-in-allem. Geist ist unsterbliche Wahrheit; Materie ist sterblicher Irrtum. Geist ist das Wirkliche und Ewige; Materie ist das Unwirkliche und Zeitliche. Geist ist Gott, und der Mensch ist Sein Bild und Gleichnis. Folglich ist der Mensch nicht materiell; er ist geistig.“
Die Lehre der Christlichen Wissenschaft wird in diesem einen wissenschaftlich richtigen und zum Nachdenken anregenden Abschnitt zusammengefaßt. Er ist in der Tat so bedeutsam, daß er vom Ersten Leser am Schluß eines jeden Sonntagsgottesdienstes in allen christlich-wissenschaftlichen Kirchen verlesen wird.
Jemand der glaubt, die Materie sei eine Wesenheit, neigt dazu, allem, was deren Wirklichkeit leugnet, mit Unduldsamkeit entgegenzutreten. Doch solange seine Daseinsvorstellung sich auf die Wirklichkeit und Substantialität der Materie gründet, wird es schwierig für ihn sein, den Geist, das Gegenteil der Materie, als substantiell anzusehen. Er wird den Geist vielmehr als etwas Unbestimmtes und Nichtsubstantielles betrachten.
Jemand, der andererseits die Wirklichkeit und Substantialität des Geistes durch geistiges Verständnis annimmt, wird es nicht nur schwierig, sondern völlig unmöglich finden, überhaupt etwas anderem Wirklichkeit zuzuschreiben. Er kann nicht das als wirklich annehmen, was ein Gegenteil des Geistes zu sein scheint, denn wenn der Geist wirklich ist, muß sein Gegenteil, die Materie, unwirklich sein; wenn der Geist substantiell ist, muß die Materie nichtsubstantiell sein; wenn der Geist intelligent ist, muß die Materie nichtintelligent sein; wenn der Geist wahr ist, muß die Materie unwahr sein. Solche Schlußfolgerungen stellen nicht nur die Ansicht eines Menschen dar; sie sind das unvermeidliche Ergebnis wissenschaftlich logischen Denkens.
Im Buch des Propheten Jesaja, Kapitel 42, lesen wir: „So spricht Gott, der Herr, der die Himmel schafft und ausbreitet, der die Erde macht und ihr Gewächs, der dem Volk, so darauf ist, den Odem gibt, und den Geist denen, die darauf gehen: ... Ich, der Herr, das ist mein Name; und will meine Ehre keinem andern geben noch meinen Ruhm den Götzen.“ Ob wir uns dessen nun bewußt sind oder nicht, wir versagen Gott, dem Geist, die Ehre, wenn wir der Materie etwas zuschreiben, das allein dem Geist zugehört.
Wenn die Wissenschaft die Wirklichkeit der Materie leugnet, so verneint sie damit keineswegs die Wirklichkeit der Substanz, auch leugnet sie nicht unser gegenwärtiges Dasein. Sie öffnet die Tür unseres Denkens, so daß wir die wahre Natur der Substanz, die Wirklichkeit unseres Daseins, erkennen und begreifen können. Zur Veranschaulichung sei gesagt, daß wir von Adhäsion, Kohäsion und Anziehungskraft gewöhnlich als Eigenschaften der Materie denken. Doch im Lehrbuch wird erklärt (S. 124): „Adhäsion, Kohäsion und Anziehungskraft sind Eigenschaften des Gemüts.“ Im nächsten Abschnitt lesen wir: „Geist ist das Leben, die Substanz und Fortdauer aller Dinge. Wir wandeln auf Kräften. Entferne sie, und die Schöpfung muß zusammenfallen. Das menschliche Wissen nennt sie Kräfte der Materie; aber die göttliche Wissenschaft erklärt, daß sie ganz und gar dem göttlichen Gemüt angehören und diesem Gemüt innewohnen; so führt sie sie zu ihrer rechtmäßigen Heimstätte und Ordnung zurück.“
Die Christliche Wissenschaft sorgt für die geistigen Bedürfnisse der Menschen in derselben Weise wie Christus Jesus, und auf Grund der Allerhabenheit des Geistes stillt dieses segensreiche Wirken ihre körperlichen Bedürfnisse in angemessener Weise. Sie bringt das Leben der Menschen, ja, unser aller Leben, in Einklang mit dem geistigen Gesetz, dem Gesetz, auf welches sich die Harmonie und Ordnung des Universums gründet. Dieses Tätigkeitsgebiet, für die geistigen Bedürfnisse der Menschen Sorge zu tragen, ist die Aufgabe, mit der Gott die Christliche Wissenschaft betraut hat. Wenn die Sendung dieser Wissenschaft wahrhaft verstanden wird, wird man erkennen, daß ihre Heilungswerke mit denen des Meisters übereinstimmen, und die zeitgenössischen religiösen und medizinischen Gedankenrichtungen werden ein System willkommen heißen, das sich der Aufgabe widmet, für die Bedürfnisse der Menschen auf einer rein geistigen Basis Sorge zu tragen.