Wenn in biblischen Zeiten etwas von bleibender Bedeutung vor sich gehen sollte, ging das göttliche Gebot, stille zu stehen, dem Befehl, vorwärts zu gehen, zuweilen voraus. Häufig besteht der erste Schritt in der Demonstration der Christlichen Wissenschaft darin, einzuhalten und auf Gott zu harren. Wie kritisch die Situation auch erscheinen mag, wie drohend die Gefahr, wenn wir als erstes den Lärm des sterblichen Gemüts zum Schweigen bringen, dann wird sich eine genau auf das menschliche Bedürfnis abgestimmte befreiende Lösung zeigen, und zwar genau im richtigen Augenblick und stets in praktischer Weise.
Mrs. Eddy schreibt in ihrem Buch „Rückblick und Einblick“ (S. 88): „Das Gemüt demonstriert Allgegenwart und Allmacht, aber das Gemüt schwingt sich um eine geistige Achse. Seine Macht entfaltet sich und seine Gegenwart wird fühlbar in ewiger Stille und unverrückbarer Liebe.“
Der Wert innerer Stille und der ihr innewohnenden machtvollen Möglichkeiten wurde in der Erfahrung des Moses veranschaulicht, der, nachdem er um Führung auf die Stimme Gottes gelauscht hatte, bereit war, die Kinder Israel aus der Knechtschaft herauszuführen. Wir lesen, daß die Israeliten sich auf ihrer Flucht vor den Ägyptern in einer hoffnungslosen Zwangslage befanden. Vor ihnen breitete sich das Rote Meer aus. Von hinten wurden sie von den ägyptischen Verfolgern bedrängt; aber die flüchtenden Israeliten konnten sich nicht wenden und mit ihnen streiten. Sie waren wie in einer Falle. Jedes menschliche Bemühen zu entkommen wäre nutzlos gewesen und hätte eine Verschwendung kostbarer Zeit bedeutet. Es hätte nur noch mehr Verwirrung gestiftet und ihren Untergang besiegelt.
In diesem Augenblick sprach Moses (2. Mose 14:13, 14, nach d. engl. Bibel): „Fürchtet euch nicht, stehet still und sehet zu, was für ein Heil der Herr heute an euch tun wird. Denn diese Ägypter, die ihr heute sehet, werdet ihr nimmermehr sehen ewiglich. Der Herr wird für euch streiten, und ihr werdet still sein.“ Im Gehorsam gegen dieses inspirierte Geheiß befolgten die Israeliten den Befehl des Moses, stille zu stehen. Dann kam Gottes Befehl, vorwärts zu gehen; das Meer teilte sich vor ihnen und sie gingen hindurch, mitten durchs Meer, „auf dem Trockenen“.
Und wiederum, als die Kinder Israel im Begriff waren, das Gelobte Land zu betreten, sagte der Herr zu Josua (3:8): „Du gebiete den Priestern, die die Lade des Bundes tragen, und sprich: Wenn ihr kommt vorn ins Wasser des Jordans, so stehet still.“ Dann teilte sich der Fluß vor ihnen, so daß das Volk trocken hindurchgehen konnte.
Das Bedürfnis nach geistiger Stille und Gelassenheit ist nicht auf Augenblicke der Gefahr beschränkt. Das Frohlocken über vollbrachte Leistungen muß ebenfalls durch eine heilige Stille beschützt werden, damit die Sterblichen nicht vergessen, daß es die Gnade Gottes ist, und nicht ihre eigene Kraft, die diese Beweise Seiner Güte in ihre Erfahrung bringt. Früher oder später müssen alle Menschen lernen, „stille zu stehen“ — die materiellen Sinne zum Schweigen zu bringen und auf Gott zu warten. Dann werden sie finden, daß unwiderstehliche geistige Kräfte zu ihren Gunsten wirksam werden, so daß sie in Sicherheit vorwärts gehen können.
Ein junger Christlicher Wissenschafter konnte die Wahrheit dieser Tatsache beweisen, als er sich um die Anzeigenvertretung einer großen Firma bewarb. Er hatte verschiedene Entwürfe gemacht, um der Firma einen Werbungsvorschlag zu unterbreiten, doch nach einigen Wochen, während derer er, wie er glaubte, verständnisvolle und vom Gebet getragene Bemühungen gemacht hatte, war es ihm nicht gelungen, ein Interview mit dem Geschäftsführer der Firma herbeizuführen. Eines Morgens, als er sich wieder auf dem Weg zum Büro dieses Geschäftsmannes befand, hieß ihn eine innere Eingebung, die er als das „stille sanfte Sausen“ der Wahrheit erkannte, einhalten.
Die Stimme schien zu sagen: „Diese Firma hat ohne deine Dienste über 80 Jahre lang erfolgreich bestanden. Ganz offensichtlich braucht sie diese im Augenblick nicht. Aber du als Christlicher Wissenschafter mußt mehr von dem einen Gemüt erkennen lernen, das zum Wohle aller wirkt. Gib selbstsüchtigen Ehrgeiz und menschliches Planen auf, und vergegenwärtige dir das wahre, geistige Dasein, in welchem der Mensch nicht etwas erringen, vorantreiben oder erhalten muß; der Mensch hat nur etwas zu geben. Lerne Gott widerzuspiegeln. Welches ist die größere Errungenschaft: diesen Anzeigenauftrag zu erhalten, oder stille zu stehen und zu wissen, daß alles von dem einen Gemüt regiert wird?“
Der junge Mann war augenblicklich geheilt. Er ging zurück in sein Büro, legte die Mappe mit den Entwürfen und Angeboten weg und wandte sich der Arbeit an einem Projekt in einem anderen Stadtteil zu. Obwohl er äußerlich beschäftigt war, war er sich doch zutiefst des mühelosen Wirkens des göttlichen Lebens bewußt, in dem alle Beziehungen harmonisch und alle Ereignisse vollkommen und gerecht aufeinander abgestimmt sind. Er erkannte, daß das Gemüt das Zusammenwirken seiner Ideen regiert und beschützt.
Am nächsten Morgen erfuhr er, daß der Mann, den er so emsig versucht hatte zu erreichen, angerufen hatte, und zwar kurz nachdem er am vorhergehenden Morgen fortgegangen war. Es wurde ein Treffen vereinbart und im Verlauf desselben wurde er beauftragt, die Anzeigenwerbung für diese Firma zu übernehmen. Wenn der junge Mann auch dankbar war für den Auftrag, so war er doch noch dankbarer, verstehen gelernt zu haben, daß der Christus, die Wahrheit, durch die innere Stimme zu uns spricht; daß wir, wenn ein persönliches Verantwortungsgefühl und menschlicher Wille einem geistigen Bewußtsein der Stille und des Gehorsams weichen, imstande sind, Gottes gütige Herrschaft widerzuspiegeln, und daß auf diese Weise wahrer Fortschritt und Erfolg sichergestellt werden.
„So spricht der Herr Herr, ..: Wenn ihr umkehrtet und stillebliebet, so würde euch geholfen; durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein“, verkündete der Prophet Jesaja (30:15). Wie klar muß der Prophet verstanden haben, daß die Stille der Gelassenheit nicht Trägheit bedeutet; und ebensowenig ist Geduld gleichbedeutend mit Untätigkeit! Geistige Gelassenheit und Ausgeglichenheit stellen sinnbildlich gesprochen Spiegel dar, die die Vollkommenheit Gottes ohne Schatten einer Abweichung widerspiegeln. Die Widerspiegelung und die vollbrachte Leistung sind tatsächlich eins. Die vollkommene Widerspiegelung und das heitere Herz sind untrennbar voneinander. Ein ruhiger See spiegelt die ihn einsäumenden Bäume in all ihrer natürlichen Ebenmäßigkeit und Schönheit wider; doch auf einer vom Wind aufgepeitschten Wasseroberfläche mögen dieselben Bäume wie Schlangen aussehen, die sich winden. Die Bäume haben sich nicht verändert, nur die unruhige Spiegeloberfläche hat das verzerrte Bild erzeugt.
Wir müssen uns weigern, uns durch Furcht oder Ärger erregen zu lassen, uns durch Angst verwirren oder durch das Auftreten des Bösen in einer seiner unzähligen Erscheinungsformen aus der Fassung bringen zu lassen. Wie häufig kann ein Innehalten in freundlichem Schweigen fruchtloses Argumentieren abwenden, und wie oft vermag geistig eingegebene Sanftmut ein Verletztsein zu heilen oder diesem vorzubeugen und unsere klare Widerspiegelung Gottes aufrechtzuerhalten.
Was seinerzeit für die Kinder Israel galt, das gilt auch heute für die Menschheit: wenn wir vorwärts gehen wollen, müssen wir erst lernen, stille zu sein. Auch wir können beweisen, daß in Wirklichkeit nur das Gute gegenwärtig ist und daß kein widriger Umstand, keine sterbliche Persönlichkeit, keine bedrohliche Zukunft oder furchtbare Vergangenheit den Menschen überraschen oder überwältigen kann, der den Willen Gottes sucht und Seinem Geheiß folgt. Wenn wir lernen, erst stille zu stehen, so wird das jeden Schritt vorwärts in das Gelobte Land reiner Geistigkeit sicherstellen. Mrs. Eddy sagt in „Wissenschaft und Gesundheit“ (S. 323): „Angesichts der unendlichen Aufgaben der Wahrheit halten wir inne — warten auf Gott. Dann dringen wir vorwärts, bis der schrankenlose Gedanke voll Entzücken dahinwandelt und der unbeschränkte Begriff sich beschwingt, damit er die göttliche Herrlichkeit erreiche.“
