In der wunderbaren Bildersprache der Bibel spielt der Fluß eine wichtige Rolle. Für die Menschen der dürren östlichen Länder stellt er einen Handelsweg dar, eine Nachrichtenverbindung, eine Quelle der Bewässerung mit ihrer Verheißung des Wohlstands und der Fülle. Durch Bewässerung wird die dem Lande innewohnende Fruchtbarkeit plötzlich zum Leben erweckt, die Einöde knospet und blüht, die Wüste wird zu einem Garten. Das ausgedörrte Land wird zu einem See, und die Hitze der Sonne bringt die Pflanzen nicht mehr zum Verdorren, sondern läßt die Frucht reifen und bringt sie zur Vollkommenheit.
Im zweiten Kapitel der Genesis wird ein großer Fluß beschrieben, der den Garten Eden wässerte. Stellt nicht dieser Fluß symbolisch den Lauf der Wahrheit dar, die aus ihrer ewigen Quelle die Segnungen der göttlichen Liebe hervorströmen läßt? Gewissermaßen um die Tatsache zu unterstreichen, daß kein Bereich der menschlichen Lebenserfahrung sich außerhalb der segenbringenden Reichweite des Flusses befindet, wird dieser in vier Hauptwasser aufgeteilt. Mary Baker Eddy, die Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft, definiert bezeichnenderweise diese vier Flüsse in dem Kapitel unter dem Titel „Glossarium“ im Lehrbuch „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“.
Von dem ersten Fluß wird uns im 1. Buch Mose (2:11, 12) gesagt, er umfließe ein Land, in dem es Gold gibt. Der Christliche Wissenschafter weiß, daß das ersehnte Eldorado seiner Hoffnung und seines Glaubens nur in wachsamen Gehorsam gegen das erste Gebot gefunden wird, wodurch er die Annahmen von Leben, Intelligenz und Befriedigung in der Materie aufgibt und Leben als Geist, Gott, demonstriert.
Der zweite Fluß umfließt das Land Äthiopien. Es ist bedeutsam, daß in den Tagen, in denen die Rechte der Frau im allgemeinen als nebensächlich angesehen wurden, dieses Land von einer Linie von Königinnen regiert wurde, deren dynastischer Titel „Kandaze“ war. Es war von diesem Königshof, daß ein Kämmerer, der die Schatzkammer verwaltete und ein einflußreicher Mann war, nach Jerusalem ging, um anzubeten, und von dem Evengelisten Philippus die christliche Taufe empfing (siehe Apg. 8).
An den Ufern des dritten Flusses, Hiddekel, kam zu einer Zeit, als Israel in Gefangenschaft war, in einem Augenblick erdrückender Verzweiflung die Engelsbotschaft zu Daniel (Dan. 10:19): „Fürchte dich nicht, du lieber Mann! Friede sei mit dir! Und sei getrost, sei getrost!“ Dieser Engel veranlaßte ihn, aufrecht auf seinen Füßen zu stehen, sich zu seinem christusgleichen Stand zu erheben, ausgerüstet mit Mut und Macht, seine göttliche Mission zu erfüllen.
Der vierte Fluß war der Euphrat, ein Fluß, der in der israelitischen Geschichte eine wichtige Rolle spielte. Als Abraham schon in vorgeschrittenem Alter und noch ohne Nachkommen war, wurde ihm verheißen, daß das Land von dem Wasser Ägyptens an bis an das große Wasser Euphrat ihm und seinem Samen gegeben werden sollte (siehe 1. Mose 15: 18). In späteren Jahrhunderten wurde den Israeliten befohlen, in das gelobte Land hineinzugehen und es einzunehmen, seine Berge und seine Täler, vom Meer bis zum Libanon und bis an das große Wasser Euphrat (siehe 5. Mose 1:7, 8; 11:24).
Mrs. Eddy definiert „Euphrat“ wie folgt (Wissenschaft und Gesundheit, S. 585): „Euphrat (Fluß). Die göttliche Wissenschaft, die das Universum und den Menschen umfaßt; die wahre Idee Gottes; eine Verbildlichung der Herrlichkeit, die da kommen soll; die Metaphysik, die an die Stelle der Physik tritt; die Herrschaft der Gerechtigkeit. Die Atmosphäre der menschlichen Annahme, ehe sie Sünde, Krankheit oder Tod aufnimmt; ein Zustand des sterblichen Denkens, dessen einziger Irrtum Begrenzung ist; Endlichkeit; das Gegenteil von Unendlichkeit.“
Diese Definition hat eine tiefe Bedeutung. Wie in einigen anderen Definitionen, so wird auch hier zuerst die geistige Bedeutung gegeben und dann ihr Gegenteil.
Geistig betrachtet entspricht der Euphrat also „der göttlichen Wissenschaft, die das Universum und den Menschen umfaßt“, der Wissenschaft, von der Mrs. Eddy in ihrem Werk „Vermischte Schriften“ sagt (S. 364): „Sie ist keine Suche nach der Weisheit, sie i s t die Weisheit, sie ist Gottes rechte Hand, die das All umfaßt — alle Zeit, allen Raum, alle Unsterblichkeit, alles Denken, alle Ausdehnung, Ursache und Wirkung; sie erstellt und regiert alle Identität, Individualität, Gesetzlichkeit und Macht.“
Diese wahre Idee von Gott enthüllt das Leben in seinem göttlichen Sein; sie erhebt sich über die Physik zur Metaphysik, wo Geist seine Herrlichkeit und das Leben seine Lieblichkeit entfaltet, und wo das Sein von dem Pulsschlag der rhythmischen Tätigkeit der Seele durchdrungen ist. Hier wird der Mensch in dem Gleichnis seines Schöpfers erfunden, in der Widerspiegelung der in sich selbst bestehenden Vollständigkeit Gottes, in dem Beweis der unsterblichen Liebe. Die mißtönenden Elemente der Erde werden zum Schweigen gebracht, irdische Not und Bedrückung hören auf, und die Finsternis der Erde flieht. Das Licht und die Herrlichkeit der ewigen Gegenwart des Gemüts verkünden die Herrschaft der Seele.
Eine Anhängerin der Christlichen Wissenschaft dachte viele Jahre über die zweite Bedeutung des Euphrats nach, indem sie sich fragte: „Was ist, die Atmosphäre der menschlichen Annahme, ehe sie Sünde, Krankheit oder Tod aufnimmt‘? Was ist der, Zustand des sterblichen Denkens, dessen einziger Irrtum Begrenzung ist‘?“ Instinktiv fühlte sie, daß es wichtig war, diese Dinge zu verstehen, und doch schienen sich ihr die Antworten zu entziehen.
Aber als sie dann eines Tages in der Bibel Abschnitte aufschlug, die sich auf den Euphrat bezogen, um einen Schlüssel zu finden, der zu Mrs. Eddys Offenbarung über dieses Thema führen könnte, entdeckte sie einen erleuchtenden Abschnitt. Im Buch der Offenbarung wird der schreckliche Aufruhr und die moralische Fermentation beschrieben, die die Zerstörung des Bösen begleiten, sowie auch das Erscheinen des Himmelreichs. Dort las sie (16:12): „Und der sechste Engel goß aus seine Schale auf den großen Wasserstrom Euphrat; und das Wasser vertrocknete, auf daß bereitet würde der Weg den Königen vom Aufgang der Sonne.“ Der Euphrat vertrocknete! Das war die Antwort. Hier war in der Tat „Endlichkeit; das Gegenteil von Unendlichkeit.“
Als die Anhängerin nun über ihre eigene Erfahrung nachdachte, wie die Kindheit einer reiferen Erfahrung Raum gegeben hatte und ihr Verständnis von der Christlichen Wissenschaft dementsprechend an Tiefe und Schönheit zunahm, konnte sie zurückschauen auf viele Jahre fast unverändert guter Gesundheit, ein Zustand, der dankbar hingenommen und als selbstverständlich angesehen worden war. Im Augenblick jedoch schien sie mit einem körperlichen Problem zu ringen.
Plötzlich wurde sie sich bewußt, wie hinterlistig die aggressive mentale Suggestion war, die ihr einflüsterte: „Deine Gesundheit war deiner Jugend zuzuschreiben; sie kann dir geraubt werden. Es handelte sich lediglich um, die Atmosphäre der menschlichen Annahme, ehe sie Sünde, Krankheit oder Tod aufnimmt‘.“
Dann aber hörte sie sich augenblicklich und mit Nachdruck erklären: „Mein Euphrat kann nicht vertrocknen. Meine Gesundheit, mein Leben, mein Sein sind in der Wissenschaft begründet — verankert in Gottes Erkenntnis Seiner eigenen Unendlichkeit — und daher ewig.“ Die Erkenntnis: „Mein Euphrat kann nicht vertrocknen“, fährt fort, sich für diese Anhängerin mit zunehmender Gewißheit zu entfalten.
So kommt es, daß der zweite Teil der Definition ebenso wichtig ist wie der erste, denn eine verständnisvolle Bejahung der Wahrheit schließt auch das Verneinen des Irrtums ein. Auf Seite 297 ihres Buches „Wissenschaft und Gesundheit“ stellt Mrs. Eddy eine Illusion von Gesundheit in Gegensatz zu dem wahren Verständnis von Gesundheit und führt aus, daß selbst die veränderten und besseren Annahmen des sterblichen Gemüts keine Grundlage haben. Das geistige Verständnis allein gründet sich auf den Felsen des Christus, der Wahrheit.
Der Euphrat, der vertrocknet, wird im Lehrbuch treffend beschrieben (ebd., S. 546): „, Ein Nebel ging auf von der Erde‘. Dieses Schriftwort stellt den Irrtum so dar, als ginge er von einer Idee des Guten auf materieller Basis aus.“
Für den Christlichen Wissenschafter besteht ein dringendes Bedürfnis, bei seinem Studium der Bibel und der inspirierten Schriften unserer Führerin Mrs. Eddy sorgfältig und gründlich vorzugehen. In der Christlichen Wissenschaft können wir nicht auf halbem Wege stehen bleiben; ein oberflächliches Verständnis von dieser Wissenschaft, das an der Wirklichkeit der Materie festhält und danach trachtet, das Gute von einer materiellen Grundlage aus zu demonstrieren, ist nicht Wissenschaft.
In der Tat ist ein blinder Glaube an die Christliche Wissenschaft oder ein bloßes intellektuelles Erfassen derselben oft gefährlich, weil es zu einem Sicherheitsgefühl verleitet, wo es keine Sicherheit gibt, ebenso wie eine oberflächliche Theorie einen dazu verführen könnte, zu versuchen, eine Brücke zu bauen, ohne daß man die damit verbundenen fundamentalen Voraussetzungen versteht. Der Wissenschafter muß den ganzen Weg gehen; er muß die Christliche Wissenschaft als die volle und endgültige Offenbarung der Wahrheit anerkennen. Er muß sich hingebungsvoll um ein gründliches Verständnis der göttlich inspirierten Schriften unserer Führerin bemühen.
Der Wissenschafter weiß, daß keine dieser unschätzbaren Schriften je geändert werden kann. Es kann nichts hinzugefügt werden, noch kann auch nur ein einziges Wort oder eine einzige Erklärung herausgenommen werden, noch kann die Ausdrucksweise dieser Schriften je verbessert oder verfälscht werden. Diese Schriften verkörpern die vollständige Erklärung der endgültigen Offenbarung der Wahrheit. Sie stellen die Selbst-Offenbarung der Wahrheit in ihrer ganzen Reinheit dar, wie Gott sie Mrs. Eddy gab.
Es ist die heilige Pflicht des Christlichen Wissenschafters, diese Schriften so zu schätzen, sie so zu studieren, so über sie nachzudenken und sie so zu lieben, daß sich ihm die ganze Tiefe ihrer Bedeutung entfaltet und jede Faser seines Seins durchdringt, ihn veranlaßt, seinen Glauben an die Materie aufzugeben und die Allerhabenheit des Geistes anzuerkennen und zu demonstrieren. Dann wird er an dem wirklichen Euphrat teilhaben, der herrlichen Wissenschaft, die das Universum und den Menschen mit ihrem Reichtum umfängt.
Überdies muß der Wissenschafter beständig die aggressiven Suggestionen zurückweisen, die ihm einflüstern wollen, daß er ein Sterblicher sei, daß die Christliche Wissenschaft ihn nicht heile oder nicht heilen könne, daß ihm geholfen werden würde, wenn er die medizinische Wissenschaft mit der Christlichen Wissenschaft vermische, und daß er sich an etwas außerhalb der Macht des Geistes, des göttlichen Gemüts, um Hilfe zu wenden wünsche oder dies tun müsse. Der ehrliche Wissenschafter kann auf diese Weise nicht versucht werden.
Es ist bedeutsam, daß sich die große Stadt Babylon, berüchtigt wegen ihres Reichtums, ihres Prunks, ihrer Sinnlichkeit und Wollust, an den Ufern des Euphrat erhob. Doch der Offenbarer, der den Euphrat vertrocknen sah, sah auch die Zerstörung und den Fall Babylons. Babylon war es auch — das symbolische Produkt des Irrtums, der „von einer Idee des Guten auf materieller Basis“ ausging —, durch die die Israeliten in die Gefangenschaft verstrickt wurden. Der wahre Euphrat, der seinen Urquell in Gott hat, segnet in seinem Dahinströmen die Menschheit mit Heilung und Freiheit.
Als der Prophet Hesekiel noch in Gefangenschaft war, hatte er eine Vision von dem gelobten Land Israels (siehe Hesek. 40:2). Ein Mann mit einer Meßrute — ein Engel — führte ihn durch den Tempel und zeigte ihm dessen Vollkommenheit, Schönheit und Ebenmäßigkeit. Unter der Schwelle des Tempels floß ein Wasser heraus, in das er hineinging. Das Wasser ging ihm bis an die Knöchel und dann bis an die Knie. Es stieg immer weiter, bis es zu einem breiten, mächtigen Strom anwuchs, darin man schwimmen konnte.
Dann sagte der Engel (Hesek. 47:8, 9): „Dies Wasser, das da gegen Morgen herausfließt, wird durchs Blachfeld fließen ins Meer“ (hier wird vielleicht metaphorisch auf das Tote Meer Bezug genommen, in dem aufgrund seines hohen Salzgehaltes nichts leben konnte), „und wenn's dahin ins Meer kommt, da sollen desselben Wasser gesund werden. Ja alles, was darin lebt und webt, dahin diese Ströme kommen, das soll leben.“ Als ob diese Tatsache betont werden soll, wird noch einmal wiederholt: „Und soll alles gesund werden und leben, wo dieser Strom hin kommt.“
Im letzten Kapitel der Bibel schließt der Offenbarer seine Vision mit der Beschreibung eines „lautern Stromes des lebendigen Wassers, klar wie ein Kristall; der ging aus von dem Stuhl Gottes und des Lammes“. Und er sagt (Offenb. 22:17): „Und der Geist und die Braut sprechen: Komm! Und wer es hört, der spreche: Komm! Und wen dürstet, der komme; und wer da will, der nehme das Wasser des Lebens umsonst.“
Durch ihr hingebungsvolles Lebenswerk hat unsere geliebte Führerin es möglich gemacht, daß wir dieser Einladung Folge leisten können, und der große Strom der göttlichen Wissenschaft steht allen frei.
