Es gibt eine Fabel über ein kleines Mädchen, das wählen durfte, ob es hübsch oder gut sein wolle. Es entschied sich für das Hübschsein und setzte hinzu: „Weißt du, ich kann immer gut sein, wenn ich möchte.“
Paulus beschrieb die allgemeine menschliche Situation richtiger, als er ausführte (Röm. 7:19, 24): „Das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich. ... Ich elender Mensch!“ Zu allen Zeiten haben die Menschen bei ihrem Bemühen, besser zu werden, festgestellt, daß sie durch ein ihnen innewohnendes scheinbar schlechteres Element daran gehindert wurden.
Verschiedene Systeme haben diese Sachlage als unumgänglich angenommen und haben versucht, den Menschen zu zeigen, wie sie sich damit abfinden können. Einige sagten: „Ich bin, wie Gott mich geschaffen hat“, andere: „Ich bin nicht schlimmer als die anderen.“ Manche haben vorgebracht, daß wir in unserem Verhalten sowieso nicht frei seien, sondern unter einem vernunftwidrigen und unsittlichen Zwang stünden. Solche Einstellungen gewähren keinen endgültigen Trost. Das Sehnen des menschlichen Herzens weiß es besser; es will sich nur mit dem Besten zufriedengeben.
Das Christentum bestätigt dieses Sehnen. Paulus ließ seiner Darstellung dieses Dilemmas die Lösung folgen (Röm. 8:1, 2): „So ist nun nichts Verdammliches an denen, die in Christo Jesu sind, die nicht nach dem Fleisch wandeln, sondern nach dem Geist. Denn das Gesetz des Geistes, der da lebendig macht in Christo Jesu, hat mich frei gemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes.“ Die Christliche Wissenschaft weist auf dieselbe Lösung hin, und Mary Baker Eddy, ihre Entdeckerin und Gründerin, schreibt: „Wahrheit, Leben und Liebe sind die einzigen rechtmäßigen und ewigen Forderungen an den Menschen; sie sind geistige Gesetzgeber, die durch göttliche Satzungen Gehorsam erzwingen. Der Mensch, der von der göttlichen Intelligenz beherrscht wird, ist harmonisch und ewig“ (Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift, S. 184).
Der Wesenskern der Lösung ist, daß uns nur das geistige Gesetz ermöglicht, der göttlichen Forderung völlig gerecht zu werden, und daß nur seine Satzungen, die sich selbst Geltung verschaffen, gewährleisten können, daß die Menschheit ihr Bestes verwirklicht sieht.
Christus Jesus hob das ältere Hebräische Gesetz nicht auf. Er sagte in bezug darauf (Matth. 5:17): „Ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen.“ Auf welche Weise „erfüllte“ er?
Das Alte Testament berichtet im zweiten Kapitel der Genesis, wie Adam materiell erschaffen wird. Die Allegorie schreibt dann ferner Adam die Fähigkeit zu, Gott ungehorsam zu sein, und berichtet die Folgen dieses Ungehorsams.
Nachdem sich aus der Allegorie die Geschichte herausgehoben hat, erscheint das Mosaische Gesetz. Es faßt alles zusammen, was die Hebräer für Gottes Forderungen hielten, sowohl in bezug auf ihre Haltung zu Gott wie auch ihren Mitmenschen gegenüber. Wenn die Nation und der einzelne dieses Gesetz erfüllten, ließ Gott es ihnen gelingen; wenn sie ungehorsam waren, strafte Gott sie. Rechte Wahl und rechter Gehorsam, mehr als jede Art des Opfers, waren infolge dieser Anschauung zum größten Erfordernis für die Menschheit geworden.
Aber gerade dieses beständige Sich-für-das-Rechte-Entscheiden wurde durch das Wesen der Menschheit — wie es die allgemein anerkannte Theologie lehrte — unmöglich gemacht. Weil sich die Annahme entwickelt hatte, daß Gott die Menschen zum Teil materiell und zum Teil geistig erschuf, sahen sie ihre Bemühungen auf dem Wege zur Gerechtigkeit beständig durch das vermeintliche tierische Element in sich selbst vereitelt. Je größer die Bemühungen des einzelnen und je größer seine Errungenschaften, um so mehr wurde er sich oft der Hoffnungslosigkeit seiner Aufgabe bewußt. Da er, wie er annahm, zum Teil von der Erde war, konnte er niemals völlige Rechtschaffenheit erlangen. Kein Wunder, daß viele wie Paulus ausriefen: „Ich elender Mensch!“
Dann kam Christus Jesus. Johannes der Täufer grüßte ihn mit den Worten: „Siehe, das ist Gottes Lamm, welches die Sünde der Welt hinwegnimmt“ (Joh. 1:29, n. der engl. Bibel). Anstatt ein kriegführender König zu sein, nach dem viele ausschauten, kam der Messias, um den Menschen zu zeigen, wie sie den Forderungen Gottes nachkommen konnten. Das würde wiederum jedes andere Bedürfnis stillen, einschließlich der Befreiung von der Fremdherrschaft; zuerst jedoch mußte „der Welt Sünde“ hinweggenommen werden.
Für die Bezeichnung „Lamm Gottes“ gibt Mrs. Eddy folgende metaphysische Erklärung (Wissenschaft und Gesundheit, S. 590): „Die geistige Idee der Liebe; Selbstaufopferung; Unschuld und Reinheit; Opfer.“ Christus Jesus betonte, daß das Opfern einen wichtigen Bestandteil bildet, wenn es sich darum handelt, die wahre Beziehung des Menschen zu Gott auszuarbeiten und ein rechtes Verhalten und harmonische Lebenserfahrungen zu gewährleisten, die sich aus einem Verständnis von dieser wahren Beziehung ergeben. Das menschliche Bemühen, gehorsam zu sein, könnte — so wünschenswert es als Schulung auch ist — an sich niemals ausreichen; nur Opfer, geistig verstanden, könnte dieses Bemühen entscheidend wirksam machen. Das Opfer, die Selbstaufopferung, die Christus Jesus als Lamm Gottes charakterisierte, bestand in einer völligen Abweisung des Anspruches, daß die Natur des Menschen zum Teil irdisch ist, und in einem vorbehaltlosen Anerkennen der Wahrheit, daß die Natur des Menschen nur die göttliche Heiligkeit zum Ausdruck bringt.
Jesu Erkenntnis von der wahren Natur des Menschen als Gottes Gleichnis, wie im ersten Kapitel der Genesis beschrieben, befähigte ihn, in allen Punkten ohne Sünde zu bleiben. Sie befähigte ihn, seine ganze Laufbahn in einem auf der menschlichen Ebene nicht zu übertreffenden Maße zu einer Veranschaulichung von Gottes Wesen zu gestalten. Sie befähigte ihn zu sagen (Joh. 5:19): „Der Sohn kann nichts von sich selber tun, sondern was er sieht den Vater tun.“ Und in diesem opfervollen Leben fand Paulus „das Gesetz des Geistes, der da lebendig macht“, das während der Jahrhunderte der christlichen Zeitrechnung allen, die es angenommen haben, solch eine sittliche und geistige Vollmacht, solch eine große Freiheit und solch eine Fülle an Segnungen gebracht hat.
Diese Anschauung von der Heiligkeit des Menschen als des Gleichnisses Gottes ist grundlegend für das heilende und erneuernde Wirken der Christlichen Wissenschaft. Einige Schreiber des Alten Testaments hatten einen Schimmer davon erlangt, daß Gottes Gesetz nicht ein äußeres Gesetz ist, sondern den Menschen ins Herz geschrieben ist. Christus Jesus bestätigte dies; er sagte den Menschen, daß das Reich Gottes inwendig sei. Daher ist die göttliche Regierung nicht etwas Äußerliches, noch zieht sie, gleich den von Menschen gemachten Satzungen, die Möglichkeit des Ungehorsams in Betracht, während sie Gehorsam fordert. Die göttliche Regierung wirkt durch geistig wissenschaftliches Gesetz, das das Verhalten des einzelnen unwiderstehlich so lenkt, daß es seinem innersten Wesen entspricht.
Mrs. Eddy schreibt (Nein und Ja, S. 11): „Der Mensch hat eine fortdauernde Individualität; und Gottes Gesetze und ihr intelligentes und harmonisches Wirken bilden seine Individualität in der Wissenschaft der Selle.“ Unsere Handlungsfreiheit besteht daher in keiner Weise in dem Recht, Gottes Gesetz zu übertreten, sondern darin, daß wir frei sind, jenen Gesetzen gemäß zu leben, die unsere gottgegebene und gottähnliche Natur ausmachen. Es gibt keine höhere Freiheit.
Die Wirksamkeit des Gesetzes Gottes im Menschen, die von neutestamentlichen Schreibern oft mit „Gnade“ bezeichnet wird, ist nicht von einem vorangegangenen persönlichen Verdienst abhängig. Da dieses Gesetz jedoch ewig, unausbleiblich und unwiderstehlich wirkt, bringt es als ein seiner Anerkennung folgendes Zeichen jene Früchte des Geistes hervor, die Paulus in seinem Brief an die Galater aufführt: Freude, Freundlichkeit, Keuschheit, Friede, Liebe, Glaube, Geduld, Gütigkeit, Sanftmut und all jene anderen lieblichen Eigenschaften eines Charakters, der durch „das Gesetz des Geistes, der da lebendig macht in Christo Jesu“, frei gemacht worden ist.
Wie Paulus, so sind auch die Christlichen Wissenschafter bescheiden, wenn sie von ihren Errungenschaften sprechen. Wenn sie jedoch andächtig und beständig den Menschen als völlig geistig ansehen, als einen Menschen, der nicht nur vom göttlichen Gesetz regiert wird, sondern dessen innerstes Wesen völlig aus diesem Gesetz besteht, erleben sie die Heilung des Körpers, die Läuterung des Charakters, zunehmende Schärfe des intellektuellen und ästhetischen Wahrnehmungsvermögens, erfreulichere Beziehungen und reichlichere Versorgung an allem, was für die menschliche Befriedigung und das geistige Wachstum erforderlich ist.
Sie entdecken auch, daß dieses geistige Wachstum nicht kurz vor dem Ziel durch eine unüberwindliche Barriere vereitelt werden kann, die sie wegen eines vermeintlichen tierischen Elements in der menschlichen Natur niemals passieren können. Statt dessen folgen sie Christus Jesus in seiner opferbereiten Anerkennung, daß die menschliche Natur in allen Punkten göttliche Heiligkeit widerspiegelt, und nehmen dadurch wahr, daß das Himmelreich herbeigekommen ist und seine Tore weit offen stehen; sie beginnen zu erkennen, daß jene Klarheit, die der Sohn bei dem Vater hatte, ehe die Welt war, im Bereich ihrer eigenen Möglichkeiten liegt, jene Klarheit, die unter dem „Gesetz des Geistes, der da lebendig macht in Christo Jesu“, jetzt und immerdar von jedem einzelnen ausgedrückt werden kann.
