Am Spätnachmittag eines kalten Novembertages ging eine Christliche Wissenschafterin ein Stück an einem einsamen Ufer des Michigan-Sees entlang. In der hereinbrechenden Dämmerung sah sie plötzlich einen großen weißen Vogel, der bewegungslos auf einem Felsen saß. Beim Näherkommen stellte sie fest, daß es eine schöne, ausgewachsene Schnee-Eule war, ein seltener Anblick in diesen Breiten, denn der schneeweiße Vogel ist höchstens im Winter so weit südlich anzutreffen. Während sie die Eule still bewunderte, hörte sie oben in der Luft ein Kreischen, und ein großer Schwarm Möwen schoß aus dem Himmel herab und begann den fremden Besucher zu umkreisen. Offensichtlich hofften sie, die Eule durch ihr aufgebrachtes Kreischen und dadurch, daß sie geradewegs auf sie zuflogen, zu erschrecken.
Das Erstaunen der Christlichen Wissenschafterin über diesen durch nichts herausgeforderten Angriff auf eine Eule, die weder auf Möwen Jagd macht noch von derselben Nahrung lebt, wich, als sie die Erklärung für diesen heftigen Angriff fand: die Eule war ein Fremdling und von den Möwen ganz verschieden. Sie hatten nie zuvor etwas Ähnliches gesehen, und daher fürchteten sie sich vor ihr. Sie wußten offensichtlich nicht, daß sie im Polargebiet selbst Fremdlinge sein würden.
Die Christliche Wissenschafterin fand in diesen Vögeln die typischen Merkmale des fleischlichen Gemüts wieder, die heute in der Welt am Werke sind, nämlich sinnlosen Haß und Verfolgung, aus Argwohn und Furcht vor dem Unbekannten geboren, Merkmale, die — so alt wie Kain — zum Brudermord führen. Moses lernte diese Kennzeichen des fleischlichen Gemüts verstehen und handhaben, denn er sagte unter anderem in seinen Anweisungen für das Verhalten der Kinder Israel (5. Mose 10:19): „Darum sollt ihr auch die Fremdlinge lieben; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland.“
Die Eule sah nicht beunruhigt oder aufgeregt aus, aber nach kurzer Zeit flog sie ein paar hundert Meter von den lärmenden Möwen fort und ließ sich dort auf einem Felsen nieder. Die Möwen verfolgten sie jedoch und ließen ihr keine Ruhe. Die Zuschauerin beobachtete die Eule eine lange Zeit und bewunderte deren Selbstbeherrschung. Was auch immer ihr Vorhaben so weit im Süden gewesen sein mag, sie ließ sich nicht davon abbringen. Obwohl sie ein gewaltiger Kämpfer sein kann, hackte sie nicht ein einziges Mal nach ihren Quälgeistern. Bald darauf breitete sie ihre prachtvollen Schwingen aus, flog am Ufer entlang davon und ließ die Möwen hinter sich zurück.
Je länger die Christliche Wissenschafterin über dieses kleine Drama nachsann, desto mehr wurde sie sich einer tiefen Lehre bewußt. Die Menschen behandeln ihre Mitmenschen oft schlecht wegen etwas, was sie als eine exklusive kulturelle Entwicklung ansehen oder wegen der Folgeerscheinungen von Lebensbedingungen, die sich von ihren eigenen unterscheiden. Auch Unterschiede in der Hautfarbe lassen uns einander fremd erscheinen und sind der Grund für viele Konflikte. Rassisch bedingte Feindseligkeiten, die schon viel Streit unter den Sterblichen verursacht haben, sind der christlichen Lehre von der Vaterschaft Gottes und der Brüderschaft der Menschen entgegengesetzt.
Obwohl die Schnee-Eule wegen ihrer Fremdartigkeit belästigt wurde, war sie weise genug, sich in große Höhen zu erheben und von ihren Verfolgern fortzufliegen; und so mögen auch manche Menschen genügend geistige Einsicht besitzen und genug von der Macht Gottes wissen, um nicht zuzulassen, daß anmaßender Stolz oder die Unwissenheit und der Haß des Vorurteils sie von ihrem Weg abbringen. Aber der Christliche Wissenschafter kann mehr tun als das: er kann jene tierische Eigenschaft, die ihre Wurzeln in der Unwissenheit über die Natur des all-liebenden Gottes und Seiner Schöpfung hat, restlos zerstören, eine Unwissenheit, die Völker zu trennen beansprucht und die, wenn sie nicht auf wissenschaftliche Weise gehandhabt wird, einen Bürgerkrieg in Ländern zu verursachen vermag, in denen Menschen verschiedener Rassen zusammenleben.
Mary Baker Eddy, die Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft, hat gesagt: „Die Grundlage der sterblichen Disharmonie ist eine falsche Auffassung vom Ursprung des Menschen“ (Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift, S. 262). Das Gegenmittel für diese Disharmonie ist daher in der wahren Auffassung vom Ursprung des Menschen als Idee im göttlichen Gemüt zu finden. Menschen aller Rassen und Völker müssen dieses Erbe beanspruchen und sich selbst und jeden anderen als Kind Gottes betrachten. Alle Religionen lehren die Brüderschaft der Menschen, aber nur die Christliche Wissenschaft zeigt uns, wie wir uns von dem Stolz, den Benachteiligungen und den Vererbungsgesetzen der sterblichen Geburt frei machen können.
Die Christliche Wissenschaft erkennt an, daß die allumfassende Freiheit und die grundlegende Gleichheit und Würde aller Völker mit der Existenz von nur einem unendlichen schöpferischen Gemüt übereinstimmen, das das Prinzip aller ist. Alles, was existiert, ist die unendliche Offenbarwerdung dieses Gemüts, das Wahrheit oder das Gute ist; daher ist das sogenannte böse Gemüt mit allem, was seine Offenbarwerdung zu sein scheint, unwirklich. Aber, mag jemand sagen, wie steht es mit der menschlichen Natur? Man kann die menschliche Natur nicht ändern. Die Christliche Wissenschaft hat uns gezeigt, wie man diese sogenannte menschliche Natur ändern kann, und hat uns die einzig praktische Antwort auf die Probleme von Heute gegeben. Mrs. Eddy betont wiederholt in ihren Schriften, daß das Gute, und nur das Gute, natürlich und ursprünglich ist. Sie sagt (ebd., S. 470): „Mit einem Vater, nämlich Gott, würde die ganze Familie der Menschen Brüder werden; und mit einem Gemüt, und zwar Gott oder dem Guten, würde die Brüderschaft der Menschen aus Liebe und Wahrheit bestehen und Einheit des Prinzips und geistige Macht besitzen, die die göttliche Wissenschaft ausmachen.“
Die Christliche Wissenschaft lehrt, daß die allumfassende Gegenwart des Guten Geist ist. Von dieser Voraussetzung ausgehend erklärt sie, daß Gott unendlich ist, überall, uns immer nahe, ganz gleich auf welcher Seite der Erdoberfläche wir leben, ob in der Kälte Islands oder in der einsamen Wüste Afrikas; daß Er alle Seine Kinder liebt; daß Ihm keines fremd ist, sondern daß ein jedes der Gegenstand Seiner zärtlichen Fürsorge ist. Weder Geographie noch der Zufall der menschlichen Geburt kann die geistige Tatsache ändern, daß die Kinder unseres all-harmonischen Vater-Mutter Gottes untrennbar vom Gemüt sind und daher auch niemals voneinander getrennt sein können. Weder tierischer Instinkt noch hypnotische Suggestion kann Gottes vollkommene und vollständige Schöpfung in Stücke reißen. Noch kann eine der Ideen Gottes die Harmonie einer anderen stören.
Die Wahrheit, die Paulus aussprach, der oft ein Fremdling in anderen Ländern war, stillt die Nöte derjenigen, die die Bitterkeit des Fremdseins und den Schmerz des Mißverstehens fühlen (Eph. 2:19): „So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Bürger mit den Heiligen und Gottes Hausgenossen.“
Unter der Randüberschrift „Allumfassende Brüderschaft“ zeigt uns Mrs. Eddy, wie wir die praktisch anwendbare Macht gewinnen können, die die Brüderschaft der Menschen demonstriert (Wissenschaft und Gesundheit, S. 276): „Wenn die göttlichen Weisungen verstanden werden, dann enthüllen sie die Grundlage der Brüderschaft, in der ein Gemüt nicht mit dem anderen im Streit liegt, sondern alle einen Geist, Gott, eine intelligente Quelle haben, in Übereinstimmung mit dem Befehl der Schrift: ‚Ein jeglicher sei gesinnt, wie Jesus Christus auch war.‘ “
