Jeder, der sich mit der Geschichte des geistigen Heilens befaßt, steht zwei Fragen gegenüber: Ist die Heilung so erfolgt, wie sie berichtet wird? Und wenn ja, war dann der Vorgang der Art, daß er rechtmäßigerweise als geistiges Heilen klassifiziert werden sollte?
Die Schreiber des Alten Testaments glaubten an die Größe und Güte Gottes. Sie sahen in Ihm den Heiler von Krankheit, aber auch den, der Krankheit als Strafe sendet. Rachehandlungen wie auch Taten der Freundlichkeit werden der göttlichen Inspiration zugeschrieben. Es werden zum Beispiel bemerkenswerte Heilungen berichtet, die durch die Propheten Elias und Elisa geschahen, und von beiden wird erklärt, daß sie Tote auferweckt hätten. Aber die Berichte über beide schließen Erzählungen von Massenmord ein — in einem Fall handelt es sich um Kinder (siehe 2. Kön. 1:10: 2:24).
Selbst der schöne Bericht von Naemans Heilung wird durch die Erklärung beeinträchtigt, daß Gehasi für seine Habgier und Falschheit dadurch bestraft wurde, daß Naemans Aussatz auf ihn und seinen „Samen ewiglich“ 2. Kön. 5:27; übertragen wurde. Wir lesen auch die seltsame Geschichte, wie ein Toter, den man hastig begrub, auferweckt wurde, als sein Körper Elisas Gebeine berührte (siehe 2. Kön. 13).
Diese Fälle, wie sie berichtet werden, ereigneten sich alle mehrere Jahrhunderte vor dem Zeitpunkt, an dem wahrscheinlich das Buch der Könige zusammengestellt wurde, aber die Wiedergabe gründet sich zweifellos auf ältere schriftliche oder mündliche Berichte. Die Erzähler glaubten offensichtlich an die Wahrheit dessen, was sie schrieben, und sahen in diesen Geschehnissen Bekundungen der göttlichen Macht. Die Geschichten bieten überaus wertvolle geistige Lehren und haben auf die nachfolgenden Generationen einen nachhaltigen Eindruck gemacht; sie wurden zweifellos von Jesus und seinen Jüngern als geschichtlich akzeptiert. Die Heilungen Christi Jesu sind natürlich weit besser bestätigt. Sie scheinen mehr als alles andere die Menschen angezogen und sie veranlaßt zu haben, seiner Predigt zu lauschen.
In jenen Tagen herrschte im Osten allgemein der Glaube, daß die Welt voll von persönlichen bösen Geistern oder Dämonen sei, die in einen Menschen eindringen, ihn beherrschen und durch ihn sprechen könnten. Dieser Glaube kommt oft im Neuen Testament zum Ausdruck, und Jesu Heilungen wurden in vielen Fällen als das Austreiben von Teufeln oder Dämonen angesehen und beschrieben. Die heutigen Psychologen sind bereit, diese Fälle als Heilungen von Hysterie und nervösen Leiden, die sie als mental betrachten, anzuerkennen.
Aber Jesu Heilungen waren keineswegs alle von dieser Art, denn an demselben Tag, an dem er den Besessenen in Kapernaum heilte — die erste Heilung, von der Markus berichtet —, heilte er auch Simons Schwiegermutter von einem Fieber und danach viele, die an den verschiedensten Krankheiten litten. Und bei mehr als einer Gelegenheit weckte er die Toten auf. Seine Methode des Heilens wird von Mary Baker Eddy, der Entdeckerin und Gründerin der Christlichen WissenschaftChristian Science; sprich: kr'istjən s'aiəns., in dem Buch „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ folgendermaßen erklärt: „Da der Meister wußte, daß Seele und ihre Attribute sich immerdar durch den Menschen offenbaren, heilte er die Kranken, gab er den Blinden das Gesicht, den Tauben das Gehör und den Lahmen den Gebrauch ihrer Füße wieder; auf diese Weise brachte er das wissenschaftliche Wirken des göttlichen Gemüts auf menschliche Gemüter und Körper ans Licht und gab ein besseres Verständnis von Seele und Heil.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 210;
Die Christliche Wissenschaft lehrt, daß alle Krankheiten, ob des Gemüts oder des Körpers, mentalen Ursprungs sind und dadurch geheit werden, daß Annahmen des menschlichen Gemüts durch die Anerkennung der Allgegenwart und Allmacht des Gemüts, das Gott ist, ersetzt werden.
Jesu wissenschaftliches Verständnis von Gott und dem Menschen heilte die Sünder wie auch die Kranken. Als er den Gichtbrüchigen mit der Versicherung tröstete, daß ihm seine Sünden vergeben seien, erkannte Jesus offensichtlich, daß es in diesem Falle notwendig war, den Mann von einem Gefühl der Schuld zu befreien (siehe Matth. 9:2). Aber er lehrte nicht, daß Krankheit immer das direkte Ergebnis der Sünden eines Menschen oder der Sünden seiner Eltern sei (siehe Joh. 9:3).
Jesu klare Wahrnehmung von der Vollkommenheit des Menschen, der das Gleichnis und der Ausdruck Gottes ist, ist die Grundlage des wahren geistigen Heilens und ist etwas ganz anderes als Glaubensheilung. Dennoch wird in den Evangelien immer wieder betont, welche Rolle der Glaube des Leidenden spielt. Der Glaube der Frau mit dem Blutfluß (siehe Matth. 9:20) zeigte sich darin, daß sie das Gewand Jesu berührte, und wir lesen, daß all diejenigen von Genezareth, die den Saum seines Gewandes berührten, gesund wurden (siehe Mark. 6:53–56).
In einigen Fällen hielt es Jesus offenbar für gut, den Glauben des Patienten durch eine äußere Handlung zu stärken. Aber sein Heilen war nicht von materiellen Hilfsmitteln abhängig; es wird nicht von ihm berichtet, daß er eine physische Diagnose stellte oder forderte oder eine besondere Lebensweise vorschrieb oder mit einer Genesungszeit rechnete. Auch Abwesenheit war kein Problem. Durch das gesprochene Wort allein heilte er die Tochter der Syrophönizierin und den Knecht des Hauptmanns (siehe Mark. 7: 26–30; Luk. 7:2–10).
Jesus ermahnte seine Nachfolger: „Macht Kranke gesund, weckt Tote auf, reinigt Aussätzige, treibt böse Geister aus.“ Matth. 10:8; Es wird uns berichtet, daß die Siebzig mit Freuden wiederkamen und sagten, daß ihnen auch die bösen Geister untertan waren (siehe Luk. 10:17). In einem Fall jedoch, in Jesu Abwesenheit, gelang es den Jüngern nicht, einen fallsüchtigen Knaben zu heilen, weil es ihnen am Glauben mangelte. Als Jesus hinzukam, heilte er den Knaben, und er wies darauf hin, daß hier Gebet vonnöten war (siehe Mark. 9:14–29).
Die Apostelgeschichte berichtet von bemerkenswerten Heilungen und auch von Totenerweckungen, die nach Jesu Himmelfahrt und dem Tag der Pfingsten durch Petrus, Johannes und Paulus geschahen, sowie allgemeiner von Heilungen durch Stephanus und Philippus (siehe Apg. 6:8; 8:6, 7). Paulus erwähnte die Gabe, gesund zu machen, unter den üblichen Offenbarwerdungen des Geistes, obwohl sie nach seiner Erfahrung nicht allen Mitgliedern der Kirche zuteil wurde (siehe 1. Kor. 12:30).
Für die Zeit, die auf die apostolische folgte, von etwa 100 A.D. an, sind die Überlieferungen unbefriedigend, und es ist oft zweifelhaft, ob alle berichteten Heilungen als „geistige“ Heilungen bezeichnet werden sollten. Wie der große deutsche Gelehrte Harnack sagte: „In der Frühzeit des Christentums, im Verlauf der ersten sechzig Jahre, waren [die Wirkungen der verschiedenen Gaben des Geistes] am offensichtlichsten, sie waren aber noch das ganze zweite Jahrhundert über vorhanden, wenn auch in geringerem Maße... Nach Beginn des dritten Jahrhunderts nehmen diese Phänomene zusehends ab... Das gewöhnliche Kirchenleben hat nun seine Priester, seinen Altar, seine Sakramente, sein heiliges Buch und seine Glaubensregel, aber es besitzt nicht mehr, den Geist und die Macht‘.“
Der amerikanische Kirchenhistoriker Philip Schaff findet es „unmöglich, den genauen Zeitpunkt [an dem die Macht, Wunder zu tun, versiegte] mit dem Tode der Apostel oder ihrer unmittelbaren Nachfolger oder mit dem Übertritt des Römischen Reiches zum christlichen Glauben ... oder mit irgendeiner darauffolgenden Zeit in Verbindung zu bringen und in jedem Einzelfalle sorgfältig die Wahrheit von der Legende zu trennen.“
Der Glaube an die Existenz und Macht von Dämonen war weit verbreitet, und die Behauptung, daß sie ausgetrieben wurden, nimmt in der christlichen Literatur einen breiten Raum ein, wie auch die Benutzung des „Namens“ Jesu. Im Alten Testament ist „Name“ oft gleichbedeutend mit der Macht oder Autorität seines Trägers. Schon in der Apostelgeschichte lesen wir von Nichtchristen, die den Namen Jesu über böse Geister aussprachen (siehe 19:13), und es scheint, daß dies unter den Christen des zweiten und dritten Jahrhunderts zu einer Formel der Geisterbeschwörung wurde. Es wird jedoch von verschiedenen christlichen Schreibern behauptet, daß die Macht, andere Arten von Krankheit zu heilen, weiterhin bei der Kirche verblieb, und es werden Totenerweckungen erwähnt. Bedauerlicherweise werden selten Einzelheiten bekanntgegeben. DIe ausführlichsten Berichte stammen von dem heiligen Augustinus, der im fünften Jahrhundert schrieb, aber die Heilungen sind mit Träumen und Heiligenreliquien verbunden.
In späteren Jahrhunderten, des Mittelalters wie der Neuzeit, gibt es eine Fülle von Berichten über Wunderheilungen durch die Hand heiliger Menschen und an heiligen Orten. Ja, die christlichen Kirchen haben niemals den Glauben an die Möglichkeit aufgegeben, daß Krankheit durch die Macht und Liebe Gottes geheilt werden kann, aber sie haben solches Heilen nicht als einen üblichen Teil ihres Wirkens angesehen.
In der jüngsten Zeit haben einzelne Menschen behauptet, die persönliche Gabe des Heilens zu besitzen, gewöhnlich durch Handauflegen, und eine wichtige Entwicklung unserer Tage ist die zunehmende Anerkennung seitens der Ärzteschaft, daß mentale Zustände eine Wirkung auf den Körper ausüben und daß demzufolge die Möglichkeit bestehe, gewisse Störungen — nicht nur neurotischer Art — durch mentale Behandlung, oder Psychotherapie, zu heilen. Solche Behandlung wird manchmal mit Gebet verbunden, und manche Kirchen haben das Heilen als Ergebnis einer wiederaufgelebten Anerkennung des Auftrags Jesu an seine Nachfolger, die Kranken zu heilen, wieder aufgenommen. Gewöhnlich haben die Kirchen jedoch darauf bestanden, daß geistige Methoden nur in Zusammenarbeit mit Ärzten angewandt werden dürften.
Es blieb Mrs. Eddy überlassen, die Methode des geistigen Heilens zu entdecken, die von Christus Jesus betätigt wurde. „Jesu Heilsystem“, so schreibt sie, „wurde weder Hilfe noch Billigung von anderen sanitären oder religiösen Systemen zuteil, weder von den Lehren der Physik noch von denen der Theologie; und sein System ist bis heute noch nicht allgemein angenommen worden.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 132;
Die Schritte, die zu Mrs. Eddys Entdekkung führten, sind gut bekannt. Von Kindheit an tief religiös, suchte sie viele Jahre lang Befreiung von chronischen Beschwerden durch Gebet in Verbindung mit anderen Mitteln wie Homöopathie, Magnetismus und Suggestion, aber ohne anhaltenden Erfolg. In ihrem Buch „Rückblick und Einblick“ sagt sie: „Zwanzig Jahre lang hatte ich vor meiner Entdeckung versucht, alle physischen Wirkungen auf eine gedankliche Ursache zurückzuführen.“ Rückbl., S. 24; Schließlich, im Februar 1866, als sie an den Nachwirkungen eines schweren Unfalls litt, fand sie die Antwort auf ihr Suchen. Als sie den Bericht las, wie Jesus den Gichtbrüchigen heilte (Matth. 9:1–8), wurde es ihr offenbart, daß diese göttliche Macht die Wirksamkeit desaß, ihrer gegenwärtigen Not abzuhelfen, und sie stand geheilt auf.
Daraufhin beschloß sie, nach der Erklärung für dieses scheinbare Wunder zu suchen, und nach einigen Monaten inspirierten Studiums der Bibel erlangte sie die wissenschaftliche Gewißheit, daß alle Ursache Gemüt und jede Wirkung ein mentales Phänomen ist. Sie fuhr fort, ihre Entdeckung sorgfältig zu prüfen, indem sie sie auf das Heilen vielgestaltiger menschlicher Übelstände anwandte, und im Jahre 1875 gab sie der Welt in ihrem Buch „Wissenschaft und Gesundheit“ eine vollständige Darstellung ihres Systems, das sie „Christian Science“Christian Science; sprich: kr'istjən s'aiəns. nannte. Als sie ihre Kirche organisierte, wurde der Zweck, das ursprüngliche christliche Heilen wiedereinzuführen, ausdrücklich erwähnt (siehe Historische Skizze im Handbuch Der Mutterkirche von Mary Baker Eddy, S. 17).
Das Heilen der Kranken ist nicht der wichtigste Teil der Christlichen Wissenschaft, aber es ist ein wesentlicher Teil, und zwar der Teil, der die Außenstehenden hauptsächlich interessiert und anzieht. Wundervolle Heilungen von Mrs. Eddy selbst sind aufgezeichnet worden, und von 1883 an erscheinen in den von ihr gegründeten Zeitschriften — monatlich, wöchentlich und vierteljährlich — mit Namen versehene Zeugnisse über Heilungen, die entweder mit Hilfe eines Ausübers der Christlichen Wissenschaft oder durch das eigene Verständnis des Betreffenden bewirkt wurden.
Für den sichergehenden Materialisten ist jede mentale Tätigkeit, bewußt oder unbewußt, die des menschlichen Gemüts, das durch das Gehirn und die Nerven wirkt. Die meisten Christen, die ja an die Existenz eines allerhabenen göttlichen Gemüts glauben, glauben auch an die Existenz begrenzter menschlicher Gemüter, die von materiellen Körpern abhängig sind. Sie betrachten Jesu Heilungen als Wunder, als Begebenheiten außerhalb des natürlichen Laufs der Dinge. Das unterscheidende Merkmal des christlich- wissenschaftlichen Heilens liegt darin, daß die Materie nur als eine irrige Auffassung von Substanz betrachtet wird, als das Produkt eines Gemüts, das selbst alle Wirklichkeit verliert, wenn Gott als das einzige Gemüt erkannt wird. Solches Heilen ist nicht wundersam oder übernatürlich, sondern ein natürliches Ergebnis des göttlichen, geistigen Gesetzes, das jetzt, wenigstens in gewissem Grade, verstanden und angewandt wird.
So außergewöhnlich, ja revolutionär erscheint Mrs. Eddys Lehre über diesen Punkt denjenigen, die nicht Christliche Wissenschafter sind, daß sie die große Bedeutung ihrer Entdeckung nicht erkennen. Sie verwechseln sie mit Glaubensheilung, worunter sie auch Hypnotismus und Suggestion in deren verschiedenen Formen verstehen, wie auch mit den Wunderheilungen, die den Heiligen zugesprochen werden.
Die Christlichen Wissenschafter sind nicht überrascht oder bestürzt über solche Mißverständnisse. Sie denken daran, daß die Predigt des Paulus von dem Christus „den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit [war]; denen aber, die berufen sind, Juden und Griechen“, predigte er „Christus als göttliche Kraft und göttliche Weisheit“ 1. Kor. 1:23, 24.. Sie sind befriedigt, daß dieselbe Macht und dieselbe Weisheit heute im geistigen Heilen der Christlichen Wissenschaft am Werk sind.
