Im Matthäusevangelium lesen wir: „Wer verläßt Häuser oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Kinder oder Äcker um meines Namens willen, der wird's vielfältig empfangen und das ewige Leben ererben.“ Matth. 19:29;
Diese Worte unseres Meisters Christus Jesus enthalten eine Forderung, die in ihrer geistigen Bedeutung verstanden sein will. Sie könnte sehr wohl folgendermaßen lauten: Wer die Bindung an die Materialität um der Wahrheit willen aufgibt, dem wird das Verständnis der weisheitsvollen, allumfassenden göttlichen Liebe und des ewigen Lebens zuteil. Um dieses Verständnis in praktischer Art und Weise zum Ausdruck zu bringen, brauchen wir nicht unser Heim, unsere Familie oder Arbeitsstätte zu verlassen, sondern wir müssen in unserem Denken die bindenden Begriffe aufgeben, die sich durch begrenzte, sterbliche Eindrücke entwickeln und aufgrund deren wir uns für materiell und unharmonisch halten mögen.
Schließt das die Freude an einem schönen Heim aus? Gewiß nicht! Wenn wir uns jedoch nicht bewußt sind, daß unser wirkliches Heim im göttlichen Gemüt mit seiner ständig sich entfaltenden Fülle von Inspiration und Frieden ist, und wenn unser Denken in bezug auf unser Zuhause von Sorgen umwölkt ist, dann haben wir etwas aufzugeben, nämlich die Vorstellung, daß unser Wohlergehen im Grunde von einem Haus und materiellem Besitz abhängig sei.
Das Ablassen von einer rein materialistischen Gesinnung und das Erfassen der geistigen Tatsachen in bezug auf das Heim läßt uns „vielfältig empfangen“, so daß das Licht der Freude auch die irdische Wohnung durchstrahlt; denn von Gott geführt, tun wir die richtigen Schritte, die der Regelung unserer Angelegenheiten dienen und uns drückender Sorgen entheben.
Es ist nur natürlich, daß eine herzliche Liebe Geschwister verbindet. Und doch spricht Jesus davon, „Brüder oder Schwestern“ zu verlassen. Wie ist das zu verstehen? Der Christus, die göttliche Wahrheit, umfaßt alle Kinder Gottes als Brüder und Schwestern. Die Christusliebe schließt niemanden aus, während die menschliche Liebe, durch fleischliche Bande bedingt, oftmals den Personenkreis begrenzt und gleichgültig oder sogar abweisend gegen jene Mitmenschen ist, die nicht dazu gehören. Wir sollten diese begrenzte Vorstellung aufgeben, damit die universale, vollkommene Liebe in unserem Herzen Raum gewinne und die Brüderschaft und die Zuneigung unter den Menschen sichtbar werde.
Widerspricht Christi Jesu Forderung, alle, die wir lieben, um seines Namens willen zu verlassen, dem Gebot, das mit den Worten beginnt: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren“ 2. Mose 20:12;? Nein, denn unser Meister erwartete von uns, daß wir die Vorstellung aufgeben, der Mensch empfange sein Leben von einem sterblichen Vater und einer sterblichen Mutter. Das Aufgeben dieser Annahme bedeutet zugleich, den Menschen — Vater und Mutter wie auch sich selbst — als Bild und Gleichnis Gottes zu sehen. In diesem Christus-Verständnis ist jeder der geistige Ausdruck des einen Eltern-Gemüts, des Vater-Mutter Gottes, der den Menschen, Seinen geistigen Sprößling, segnet.
Für einen Mann, der seine Frau liebt, dürfte der Gedanke, sie aus religiösen Gründen zu verlassen, lieblos erscheinen. Doch er könnte ein Verständnis von dem tieferen, wahrhaft liebevollen Sinn der Worte Jesu erlangen: daß es nicht die Ehefrau ist, die er verlassen sollte, sondern jene leidbringende, egoistische Gesinnung, die die Frau nur in ihrer fleischlichen Gestalt sieht und sie als Besitz betrachtet. Der materielle Sinn muß verklärt werden, indem der Mensch geistig erfaßt wird, als die Widerspiegelung der Seele, die sich in Liebe, strahlender Reinheit und unvergänglicher Schönheit ausdrückt. Diese geistig sehende Liebe, die den wirklichen Menschen in seiner vollkommenen, seelisch-geistigen Gestalt wahrnimmt, ist die Christusliebe, die Mann und Frau erhebt, erlöst und beglückt.
Wer liebt nicht seine Kinder? So mag es manchem Vater und mancher Mutter nicht leicht erscheinen, den Begriff „mein“ in bezug auf die Kinder um Christi willen aufzugeben. Und doch kann die Vorstellung, daß ein Kind das Geschöpf seiner Eltern, das Produkt ihres Erbgutes und ihrer Erziehung — ja ihr Besitz — sei, durch die Erkenntnis berichtigt werden, daß es Gottes Kind, Sein geliebtes Eigentum ist.
Diese Weisheit, die das Kind nicht in einer persönlichen Beziehung sieht, sondern in seiner Beziehung zu Gott, läßt das Kind sich seines wahren Selbst bewußt werden, so daß es Intelligenz, Gehorsam, Freude, Liebe, Anmut, Kraft und Gesundheit mühelos ausdrücken kann. Ein ahnendes Verständnis von der Größe des Menschen als der Widerspiegelung des unendlichen Geistes und der unsterblichen Liebe führt Eltern und Kinder zu dem Erlebnis ihres Einsseins in Christus, das ängstliche Sorge und Trennungsschmerz und gewisse auf Besitzgier beruhende Befürchtungen ausschließt. Der Glaube an die geistige Schöpfung, in der es nur einen Vater-Mutter Gott gibt, führt zu einer allumfassenden Liebe. Der Glaube geht über die persönliche, fleischliche Bindung hinaus und segnet alle, die in seinen Strahlenkreis treten.
Wenn Jesus im Rahmen der Begriffe, die aufzugeben sind, das Wort „Äcker“ wählte, so dürfte er dabei an ihre Bestellung gedacht haben — an die Arbeit, die das menschliche Denken oft in so erschreckender Weise beschäftigt. Ob sich der Dienst nun auf den Ackerbau oder sonst einen Tätigkeitsbereich bezieht — wenn der menschliche Sinn allein von Bergen zu bewältigender Arbeit erfüllt ist und glaubt, sie aus eigener Kraft oder Fähigkeit meistern zu müssen, so gerät er in Bedrängnis, die manchmal zu groß für ihn wird. Dann zeigen sich negative Auswirkungen.
Diese Art belasteten Denkens kann aufgegeben werden, und Gott kann als die Grundlage allen Wirkens erkannt werden. Gott ist der Wirkende. Der Mensch ist lediglich Gottes Widerspiegelung. Widerspiegelung aber ist mühelos. Wenn wir dies verstehen, geben wir den persönlichen Sinn, der stets etwas will, auf. Wir ordnen uns der weisheitsvoll leitenden Führung des göttlichen Prinzips unter und bringen mehr Harmonie und Fortschritt zum Ausdruck.
Das Loslösen der menschlichen Tätigkeit von einem rein materialistischen Zweck muß bewußt geschehen, und die geistige Tatsache, die dem menschlichen Wirken zugrunde liegt, muß als Widerspiegelung Gottes verstanden werden. Dann erkennen wir, daß nicht Reichtum das Hauptziel menschlichen Strebens ist, sondern das Christuswirken. Darin erweisen wir der Menschheit einen Dienst. Jede menschliche Tätigkeit gewinnt ihren tieferen Sinn, wenn sie aus Liebe, gewissenhaft und mit Freude getan wird, und eine reichliche Versorgung ist dabei gewiß.
Durch das Studium der Christlichen Wissenschaft, das das Denken vergeistigt, gewinnt jeder einzelne eine bessere Vorstellung vom göttlichen Wirken in seinem eigenen Leben. Ob sich nun das Wirken in der Heilung einer schwierigen Situation oder eines kranken Körpers ausdrücken mag, es wird zu einem Mittel geistiger Erleuchtung. Jesus beschrieb einst sein Wirken mit den Worten: „Der Vater aber, der in mir wohnt, der tut seine Werke.“ Joh. 14:10;
Wenn uns Gottes Wirken in vollem Umfang offenbar werden soll, müssen wir den persönlichen Sinn um Christi willen aufgeben. Mary Baker Eddy schreibt diesbezüglich im Lehrbuch der Christlichen Wissenschaft, Wissenschaft und Gesundheit: „Es gibt nur einen Weg zum Himmel, zur Harmonie, und Christus zeigt uns diesen Weg in der göttlichen Wissenschaft. Das heißt, keine andere Wirklichkeit kennen — kein anderes Lebensbewußtsein haben — als das Gute, als Gott und Seine Widerspiegelung, und sich über die sogenannten Schmerzen und Freuden der Sinne erheben.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 242.
