Dem Urteil des Jakobus auf dem Konzil zu Jerusalem (s. Apg. 15:13–21) folgte eine weitere ermutigende Geste seitens der Jerusalemer Kirche. Sie bestätigte das Wirken des Paulus und Barnabas und beschloß, zwei ihrer Mitglieder — Judas, mit dem Zunamen Barsabas (einige Gelehrte meinen, er sei der Bruder des in der Apostelgeschichte 1:23 erwähnten Joseph Barsabas gewesen), und Silas, der mitunter Silvanus genannt wird — mit ihnen nach Antiochien zu senden. Darüber hinaus gab sie ihnen ein offenes Schreiben an die „Brüder aus den Heiden, die zu Antiochien und Syrien und Cilicien sind“, das besagte, daß sie nicht das gesamte jüdische Gesetz zu befolgen brauchten; die Kirche verlangte lediglich von ihnen, daß sie ein Mindestmaß an Vorschriften einhalten sollten. Der volle Wortlaut dieses äußerst wichtigen Briefes ist in der Apostelgeschichte 15:23–29 wiedergegeben.
Somit hatte Paulus seinen zweiten großen Sieg für die Heidenchristen errungen. Er hatte die Freiheit des Evangeliums und das bereits vollbrachte Werk unter den nichtjüdischen Anhängern des Glaubens verteidigt und zugleich den Weg für seine weitere Tätigkeit als der große Missionar der Kirche vorbereitet.
Natürlich herrschte unter den Heiden große Freude, als Paulus und Barnabas mit Judas und Silas nach Antiochien zurückkehrten und das Schreiben öffentlich verlasen. Alle vier predigten dort erfolgreich (s. V. 30–35).
Wie wir jedoch bereits gesehen haben, konnte sich Paulus in seinen Augenblicken des Erfolgs einfach nicht auf seinen Lorbeeren ausruhen. Er mußte immer noch mehr vollbringen. Er sah sich weiteren Verfolgungen gegenüber, die seine Feinde angezettelt hatten, und was noch schmerzlicher für ihn war, diejenigen, die behaupteten, seine besten Freunde zu sein, wandten sich von ihm ab und ließen ihn im Stich.
Wie wir gesehen haben, mußte er bei einer Gelegenheit sogar Petrus zurechtweisen — der ihm auf der Konferenz in Jerusalem mutig beigestanden hatte —, weil er (unter Druck) den Juden nachgegeben hatte. Paulus hatte mit Barnabas eine Meinungsverschiedenheit über dieselbe Frage; und obgleich diese beigelegt gewesen zu sein schien, kam es zwischen den beiden Männern zu einer anderen und bedauerlicheren Auseinandersetzung, die zu einem offenen Bruch führte. Sie hatten beschlossen, zusammen die Kirchen zu besuchen, die sie auf ihrer letzten Missionsreise gegründet hatten. Als sie sich aber entscheiden mußten, wen sie mitnehmen sollten, konnten sie sich nicht einigen. Barnabas bestand darauf, seinen jungen Verwandten Markus mitzunehmen; aber Paulus, der daran dachte, wie Markus sie auf ihrer vorigen Reise in Perge verlassen hatte, weigerte sich verständlicherweise, den jungen Mann mitzunehmen. „Sie kamen scharf aneinander, so daß sie sich trennten.“ Sie teilten die Arbeit unter sich auf. Barnabas nahm Markus mit und fuhr nach Zypern, während Paulus nichts anderes übrigblieb, als seine Reise allein zu unternehmen oder sich einen anderen Gefährten zu suchen (s. V. 36–39).
Wohl wurde der Bruch später bis zu einem gewissen Grade geheilt (s. 1. Kor. 9:6), doch nie wieder sehen wir Paulus und Barnabas zusammenarbeiten, wie sie es so erfolgreich in jenen langen und schweren Monaten in Antiochien in Pisidien, Ikonion, Lystra und Derbe und in den anderen Städten getan hatten, wo sie das Evangelium gepredigt hatten.
So ergab es sich, daß Paulus, als er sich auf seine zweite Missionsreise zu den Heiden vorbereitete, Silas als Begleiter wählte. Silas war erst kurz zuvor von Jerusalem gekommen, wo er ein führendes Mitglied der Kirche gewesen war. Offenbar entstand zwischen ihm und Paulus eine enge Freundschaft, und in mancherlei Hinsicht war er Paulus nicht unähnlich. Obgleich beide Juden waren, lag ihnen die Bekehrung der Heiden sehr am Herzen, und beide hatten den Vorteil, römische Bürger zu sein (s. Apg. 16:37).
Als sie von Antiochien aufbrachen — wahrscheinlich im Frühjahr 50 n. Chr. —, besuchten Paulus und Silas als erstes die Kirchen in Syrien und Cilicien (s. 15:40, 41). Danach zogen sie in nördlicher Richtung, offenbar durch die Cilicische Pforte, und erreichten auf diesem Wege Derbe, doch diesmal näherten sie sich der Stadt vom Osten. Von dort gingen sie weiter nach Lystra, wo Paulus feststellte, daß Timotheus, den er anscheinend während seines ersten Besuchs bekehrt hatte, nicht nur in seiner Heimatstadt Lystra, sondern auch in der benachbarten Stadt Ikonion als unerschütterlicher Christ bekannt geworden war. Hier war nun gerade der richtige Mann, das Amt eines Begleiters zu übernehmen, das Markus innegehabt hätte, wenn er nicht einige Jahre zuvor den bedauerlichen Rückzieher gemacht hätte. Timotheus erklärte sich einverstanden und begleitete die Apostel auf ihrer Reise.
Die Tatsache, daß er sich von Paulus beschneiden ließ, ehe sie ihre Reise antraten, braucht nicht zu bedeuten, daß der Apostel nicht mehr eine so feste Haltung zu dieser Frage einnahm, denn Timotheus' Vater war zwar Grieche, doch seine Mutter war Jüdin. Und daher konnte Paulus dieses großzügige Zugeständnis an die religiösen Sitten der Juden machen, ohne dabei seinem Anliegen, daß dieser Brauch von den Heiden nicht verlangt würde, zuwiderzuhandeln (s. 16:1–3).
Auf ihrer Reise durch die verschiedenen Städte, in denen sie wahrscheinlich nicht predigten, verteilten die Apostel Abzüge der Satzung, die die Menschen „halten sollten“. Diese Satzung war von der Kirche in Jerusalem ausgesandt worden und bestätigte den Heidenchristen, daß sie nicht jede Bestimmung des jüdischen Gesetzes zu befolgen brauchten, und sie enthielt die für sie gültigen Vorschriften. Paulus’ Reise war anscheinend sehr erfolgreich, denn wie wir lesen, zog er durch Phrygien und Galatien, und „da wurden die Gemeinden im Glauben befestigt und nahmen täglich zu an Zahl“ (V. 5). Aber er war darauf bedacht, seine Botschaft noch weiter hinaus zu tragen.
Paulus wollte zunächst von Antiochien aus nach Westen in die Provinz reisen, die als Asien bekannt war; doch, wie uns berichtet wird, verbot ihm der Heilige Geist, dorthin zu gehen. So schlugen sie die nördliche Richtung ein und kamen in die Umgebung von Mysien, in der Hoffnung, in Bithynien zu predigen; aber wieder machte „der Geist“ ihre Pläne zunichte. So erreichten sie schließlich die geschäftige Hafenstadt Troas an der Küste des Ägäischen Meeres (s. V. 6–8).
Zweimal kurz hintereinander wurde ihnen der Weg, den sie einschlagen wollten, durch eine göttliche Botschaft versperrt, und es muß ihnen immer klarer geworden sein, daß ihre Schritte sicher zu der Erfüllung einer besonderen Aufgabe gelenkt wurden. Und so war es auch, denn als Paulus sich in Troas aufhielt, hatte er eine Vision von einem Mann, der sagte: „Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns!“ (V. 9.) Hier hatte er schließlich seine Antwort, und tatsächlich empfanden es der Apostel und seine Gefährten als eine direkte Aufforderung vom Himmel; sie waren „gewiß“, wie Lukas schreibt, „daß uns Gott dahin berufen hätte, ihnen das Evangelium zu predigen“ (V. 10).
Allem Anschein nach hatte sich Lukas, der Verfasser der Apostelgeschichte und des dritten Evangeliums, kurz zuvor der Gruppe angeschlossen, denn in diesem Vers heißt es zum erstenmal in der Apostelgeschichte „wir“, was offensichtlich den Gedanken nahelegt, daß der Verfasser selbst an den Reisen des Paulus teilnahm. Der Überlieferung gemäß stammte Lukas aus Antiochien, möglicherweise dem Antiochien in Pisidien, da in seinen Schriften eine Vertrautheit mit dem Gebiet zu erkennen ist. Paulus hatte erst kürzlich jene Stadt verlassen; vielleicht hatte sich Lukas ihm dort angeschlossen oder war er ihm nach Troas gefolgt. Wie dem auch sei, Paulus hatte nun drei Gefährten: Silas, Timotheus und Lukas.
Die Reise über das Ägäische Meer, die sie jetzt antraten, war von großer geschichtlicher Bedeutung. Offenbar sollte zum erstenmal ein Apostel europäischen Boden betreten. Die Bekehrung der westlichen Welt sollte nun ernstlich beginnen.
