Ein jeder von uns fühlt den Zug zur Unschuld. Es ist ein ganz natürlicher geistiger Impuls. Wir mögen ihn vielleicht gar nicht in seinem vollen Ausmaß wahrnehmen. Ja, wir mögen ihm sogar Widerstand entgegensetzen — und dabei einen gewissen Aufruhr verspüren. Aber das Verlangen danach ist immer vorhanden. Manchmal rührt unsere Unwilligkeit, dem Ruf einer uns innewohnenden Unschuld nachzukommen, von der versteckten Furcht her, für naiv gehalten zu werden. Wenn auch die Unschuld bisweilen der Naivität gleichgesetzt wird, besteht doch ein wichtiger Unterschied. Wahre Unschuld ist eine besondere Gabe der Seele. Sie ist eine geistige Eigenschaft und führt dazu, daß wir uns rein und gut fühlen.
Naivität erweckt des öfteren den Anschein der Unwissenheit über die Welt und der Unfähigkeit, mit ihr fertig zu werden. Echte Unschuld aber versetzt uns tatsächlich in die Lage, am besten mit den weltlichen Ansprüchen fertig zu werden, wohingegen jemand, der sich einem sinnlichen Leben hingibt, schließlich entdecken wird, daß er schlecht ausgerüstet ist, mit seiner Welt fertig zu werden. Wir brauchen nicht naiv zu sein in dem, was die Welt betrifft, während wir danach streben, eine volle Anerkennung unserer wahren Unschuld zu entwickeln.
In Wirklichkeit erhält Gott unsere ursprüngliche Reinheit, unbefleckt von weltlichen Begriffen. Seine erhaltende Gegenwart bewahrt uns unsere ewige, sündlose Natur. Die menschliche Auffassung, daß wir von der Gnade abgefallen seien, ist eine Lüge. Daß wir die Opfer der Erbsünde seien, ist ein Trugschluß. Daß wir verderbt seien, ist eine Entstellung der Wahrheit. Unser wahres Wesen ist unbescholten, weil Gott unbescholten ist. Gott allein ist die einzige Ursache, und Er ist gut. Jeder von uns sehnt sich im Innersten danach, daß diese Tatsachen voll erkannt und empfunden werden, und dieses Sehnen treibt unweigerlich Blüten. Wenn wir es nähren, schützen und unser Denken davon leiten lassen, werden wir sehen, wie unsere ununterbrochene Unschuld ans Licht kommt.
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