Während unseres Urlaubs in Tirol beschloß ich eines Morgens, einen Spaziergang zu machen. Nachdem ich meiner Frau versprochen hatte, zum Mittagessen wieder zurück zu sein, folgte ich einem gut markierten Bergpfad, der an einem reißenden Gebirgsbach entlangführte. Ich hatte bereits eine beträchtliche Höhe erreicht, als der Pfad plötzlich unter loser Erde und dem Geröll verschwand, die ein Bergsturz zurückgelassen hatte. Da ich nicht umkehren wollte, entschied ich mich, querfeldein zu gehen. Ich hoffte, etwas höher wieder auf den Pfad zu stoßen.
Das Gelände wurde immer steiler und das Vorwärtskommen beschwerlicher, so daß es schließlich töricht erschien, weiterzugehen, aber noch schwerer, umzukehren. Mühsam kletterte ich weiter, bis mir noch mehr Geröll von demselben Bergrutsch den Weg versperrte. Es lag an solch einem steilen Abhang, daß meine Füße keinen Halt finden konnten und alles ins Rutschen kam. Es schien unmöglich, diese Stelle zu überqueren; aber in welcher Richtung sollte ich gehen?
Ich begann mir Sorgen zu machen. Sicherlich würde ich einen abwärts führenden Weg finden, aber ich könnte mich um Stunden verspäten, und meine Frau würde beunruhigt sein. Schon eine Weile hatte ich mich bemüht, mir klarzumachen, daß der Mensch jederzeit unter Gottes liebevollem Schutz steht und von dem immer gegenwärtigen Gemüt geführt wird. Doch jetzt war es an der Zeit, ernsthaft zu beten. Als ich mich rückhaltlos an Gott wandte, kamen mir die Worte des Gedichts „ ‚ Weide meine Schafe‘ “ von Mary Baker Eddy in den Sinn. Der erste Vers lautet (Vermischte Schriften, S. 397):
Hirte, über Berge steil
zeig den Weg mir klar,
wie zu sammeln, wie zu sä’n,
weidend Deine Schar.
Ich will lauschen Deinem Ruf,
irr’ ich im Geheg,
will Dir folgen und mich freu’n
auf dem rauhen Weg.
Welch eine passende Antwort auf mein Gebet! Als ich so dasaß und über diese Worte nachdachte, wurde ich ruhig. Ich hatte das zuversichtliche Gefühl, daß mein himmlischer Vater mir den Weg zeigen würde.
Dann bemerkte ich einen kaum sichtbaren Pfad, dem ich erwartungsvoll folgte; er führte mich jedoch an den Rand eines Abgrunds. Enttäuscht und verwirrt sah ich mich um, und mein Blick fiel auf eine lange, dünne Stange, die in einer Rinne lag. Mir kam der Gedanke, diese Stange als Wanderstab zu benutzen. Aber ich verwarf diese Idee, denn sie schien viel zu lang zu sein, und ich wandte mich ab. Sofort kam die Aufforderung: „Heb sie auf.“ Ich fühlte mich gezwungen, zu gehorchen, und kehrte mit der Stange zu der Gleitbahn des Bergrutsches zurück. Ohne zu zögern, als ob ich einer Anweisung folgte, trieb ich dann den Stock mit aller Kraft in die lose Erde. Ich hielt mich daran fest und konnte so mit den Füßen einen festen Halt finden. Auf diese Weise überquerte ich langsam das Geröll. Normalerweise hätte ich es nicht gewagt, denn ein Ausgleiten hätte bedeutet, daß ich unweigerlich Hunderte von Metern in die Tiefe gestürzt wäre.
Auf der anderen Seite sicher angelangt, stand ich vor einem weiteren Hindernis, dem Wildbach. Doch er erwies sich als der Weg, der mich hinunterführte, denn mit Hilfe des Stocks konnte ich von Stein zu Stein springen oder klettern und gelangte so in direktem Abstieg ins Tal. Ich kam rechtzeitig ins Hotel zurück und war dankbar, solch einen kostbaren Beweis der erhaltenden Gegenwart Gottes erlebt zu haben.
Als ich die Christliche Wissenschaft kennenlernte, war ich jung genug, um noch ein Jahr die christlich-wissenschaftliche Sonntagsschule besuchen zu können, ehe ich das zwanzigste Lebensjahr beendete. Die Logik der Lehren der Christlichen Wissenschaft beeindruckten mich sehr, und ich gewann die Überzeugung, daß diese Wissenschaft die Wahrheit des geistigen Seins offenbarte. Sie begann mein Leben zu motivieren, und ich wandte mich an sie, um meine Probleme zu lösen. Ich lernte eine junge Christliche Wissenschafterin kennen, und wir heirateten später. In den vierzig mit Freude erfüllten Jahren machten wir gemeinsam Fortschritte in unserem Verständnis und unserer Anwendung dieser Wissenschaft.
Als meine Frau weiterging, war dies für mich ein harter Schlag. Mein ganzes Leben schien um mich her in die Brüche zu gehen. Alles, was für mich von Wert war, selbst mein Vertrauen auf die Christliche Wissenschaft, schien dahin zu sein. Die Wahrheiten, die ich mit anderen geteilt hatte, die einen lieben Menschen verloren hatten, schienen jetzt nur leere Worte zu sein. In Gegenwart von Freunden konnte ich gewöhnlich die Fassung bewahren; aber wenn ich allein war, packte mich oft tiefste Verzweiflung. Dieser kummervolle Zustand hielt fast vier Jahre an, und ich hatte das Gefühl, als ob ich diesen Verlust eben erst erlitten hätte.
Dann begann ich unter heftigen, körperlichen Schmerzen zu leiden und bat einen Ausüber der Christlichen Wissenschaft um Hilfe. Meine traurige seelische Verfassung erwähnte ich nicht; doch nach wenigen Tagen war ich nicht nur von den Schmerzen, sondern auch von dem tiefen Kummer frei. Ich wurde aus diesem dunklen Tal der Verzweiflung einfach herausgehoben. Ich empfand eine tiefe innere Freude, und was noch wichtiger ist, die Christliche Wissenschaft gewann wieder ihre wundervolle Bedeutung für mich. Fast augenblicklich aus hoffnungsloser Trauer zu Freude und Unbeschwertheit emporgehoben zu werden ist eine unbeschreibliche Erfahrung!
Um anderen zu helfen, die vielleicht den Verlust eines lieben Menschen beklagen, möchte ich noch folgendes hinzufügen: Die Wiederkehr der Freude bedeutete nicht, daß die Erinnerung an meine Frau verblaßte. Ich denke jetzt oft an ihre geistigen Eigenschaften, aber es fließen keine Tränen, und ich fühle mich nicht verlassen. Ich bin mir nun bewußt, daß sie ein fortdauernder Ausdruck des unsterblichen Lebens ist. Als eine Idee Gottes ist ihr wirkliches geistiges Selbst niemals gestorben, sondern bringt weiterhin die von Gott kommenden Eigenschaften zum Ausdruck. Ich bin tief dankbar für die göttliche Wissenschaft, die in der Tat der von Christus Jesus verheißene Tröster ist.
Port Erin, Man
