Nichts scheint leichter zu sein, als jemanden zu verurteilen. Es erfordert weder eine besondere Ausbildung, ein bestimmtes Alter, eine bestimmte Nationalität noch ein bestimmtes Geschlecht. Es erfordert nicht einmal die geringste Kenntnis von dem, was vor sich geht. Jeder kann es tun. Man braucht nur seinen Mund aufzutun und der Kritik freien Lauf zu lassen.
Warum ist es nicht ebensoleicht, nicht zu verurteilen? Zum Beispiel andere zu loben? Oder ihnen Achtung und Liebe entgegenzubringen und ihnen sogar zu vergeben? Nun, es ist ebensoleicht — wenn wir mehr an das denken, was über sie wahr ist, als an das, was falsch ist. Wenn wir genau wissen, was tatsächlich wahr ist, lassen wir uns nicht so leicht durch den Augenschein täuschen.
Christus, Wahrheit, zeigt uns, was der Mensch ist: geistig, nicht materiell; gesund und in keiner Weise krank; vollkommen, ohne irgendeinen Fehler oder Makel. Dieser Mensch, von dem ich spreche, ist der Mensch, den Gott zu Seinem Ebenbild geschaffen hat. Er ist nicht der Sterbliche, den Sie und ich im Spiegel sehen, sondern der Mensch, der wir alle in Wirklichkeit sind. Und dieser wirkliche Mensch setzt sich nur aus Gutem zusammen, aus Liebe und Barmherzigkeit, aus Gerechtigkeit und Weisheit, aus Reinheit und Heiligkeit. Der Christus offenbart uns das.
Wenn wir den Christus in einem gewissen Grade anerkennen, ihn annehmen und ihm folgen, beginnen wir zu sehen, was über uns alle wahr ist. Und in Gottes vollkommener Schöpfung, dem Menschen, bleibt nichts übrig, was wir verurteilen könnten. Verdammung hat in dem Christus keinen Raum. „Gott hat seinen Sohn nicht gesandt in die Welt, daß er die Welt richte“, so lesen wir in der Bibel, „sondern daß die Welt durch ihn gerettet werde.“ Joh. 3:17;
Jesus stellte den Christus in vollem Maße dar. Es ist wahr, daß er andere oft zurechtwies — ja sogar streng zurechtwies —, wenn er sie zu retten suchte. Christus Jesus wußte, daß es die Aufgabe des Christus war, zu retten, nicht zu zerstören. Durch seine Zurechtweisungen wurden die falschen Gedanken aufgedeckt, die jemand akzeptiert zu haben schien. Seine Aufgabe war es, den Menschen zu seinem wirklichen Sein als dem Kind Gottes zu erwecken. Er sagte zu seinen Jüngern: „Bleibet in meiner Liebe!“ 15:9;
Die Christliche Wissenschaft erklärt, daß es die Natur des Menschen ist, Liebe zum Ausdruck zu bringen, weil Gott ihn so geschaffen hat. Wenn wir uns von dem Christus zeigen lassen, wie geistig, fehlerlos und völlig liebenswert der Mensch wirklich ist, werden wir entdecken, daß wir ihn lieben und, falls nötig, ihm auch vergeben können. Auf diese Weise lassen wir unsere wahre christusähnliche Natur leuchten.
Wenn dies jedoch geschieht, mögen die Schlacken in unserem menschlichen Bewußtsein an die Oberfläche kommen, und wir mögen schockiert und entsetzt darüber sein, wie viel scharfe Kritik an anderen wir z. B. haben ansammeln lassen. Aber dies gehört nicht zum Gottes-Menschen. Und wir können uns davon lossagen. Wir können dankbar sein, daß sich eine Heilung vollzieht. Wenn wir uns selbst verurteilen, würden wir die Büchse der Pandora öffnen, aus der, wie Mrs. Eddy uns sagt, „alle Übel hervorgegangen sind“. Der ganze Satz lautet: „Die Darstellung des Menschen als rein physisch oder als beides, materiell und geistig — in jedem Fall aber als von seinem physischen Bau abhängig —, ist die Büchse der Pandora, aus der alle Übel hervorgegangen sind, besonders Verzweiflung.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 170;
Wenn wir jemanden, einschließlich uns selbst, „als rein physisch oder als beides, materiell und geistig“ sehen, begeben wir uns wieder auf den Weg der Verdammung. Halten wir uns aber statt dessen an den Christus, die Wahrheit, und weigern wir uns, uns durch irgendeine auf Materie beruhende Theorie über irgend jemanden beeinflussen zu lassen, dann schließen wir den Deckel der Büchse der Pandora. Wir halten an dem fest, was wahr ist. Wir beginnen festzustellen, daß Liebe zum Ausdruck zu bringen nicht so schwer ist, wie wir dachten. Im Sinne der Christlichen Wissenschaft zu lieben ist natürlich, erhebend und heilend, und es läßt uns erkennen, wie wir in einer gegebenen Situation jemandem am besten helfen können.
Im Falle von Kindern mögen wir zu lernen haben, sie konsequenter liebevoll aber doch strikt zu erziehen. Im Berufsleben müssen wir manchmal lernen, moralischen Mut aufzubringen und einen unpopulären Stand einzunehmen, wenn die Forderungen des Prinzips dies notwendig machen. Wir müssen lernen, weniger zu reden und mehr zu beten und zu sehen, wieviel mehr wir von dem Christus zum Ausdruck bringen können, wo immer wir sein mögen. Wie eifrig sind wir z. B. dabei, unsere eigenen unerwünschten Charaktereigenschaften auszumerzen? Sind wir so sehr mit den Schwächen anderer beschäftigt, daß wir unsere eigenen Unzulänglichkeiten übersehen? Wie sehr sind wir wirklich daran interessiert, anderen zu helfen? Ist es uns wichtiger, als anderen immer wieder zu zeigen, wie recht wir haben und wie gut wir sind?
Wenn wir erst einmal tatsächlich unser Denken und Leben von dem Christus regieren lassen, stellen wir fest, daß wir mehr Geduld und Mitgefühl haben. Wir werden demütiger erkennen, daß wir nicht immer die richtigen Antworten haben. Eine tiefere innere Ruhe und Gelassenheit wird uns erfüllen, eine höhere und aufrichtigere Nächstenliebe, ein ehrlicheres und beständigeres Verlangen zu vergeben, und wir werden freundlicher und wohlwollender sein, wenn es sich herausstellt, daß wir im Recht sind. Wir werden inneren Frieden haben, der von unschätzbarem Wert ist.
Gelegentlich straucheln wir und verpfuschen etwas. Aber wir können uns immer wieder aufraffen und von neuem beginnen. Wenn wir verstehen lernen, daß wir nicht hier sind, um zu verurteilen, sondern als wesentlicher Teil der Christus-Mission aktiv zu sein, die ganze Menschheit zu erlösen und zu erretten, dann gewinnt unser Leben neue Bedeutung. Die Bibel läßt uns nicht im Zweifel darüber, ob wir die an uns gestellten Anforderungen erfüllen. „Das ist die Liebe“, so lesen wir, „daß wir wandeln nach [Gottes] Geboten.“ 2. Joh. 1:6. Wie wandeln wir? Nur wir selbst können diese Frage beantworten. Und wenn uns die Antwort nicht gefällt, können wir etwas dagegen tun.