Ich wuchs in einer Stadt auf, in der viele Einwanderer leben. Wir Kinder wurden zusammen groß, spielten miteinander und aßen mal bei diesem, mal bei jenem. Um so erstaunter war ich, als mir später klarzuwerden begann, daß es in unserer Stadt Vorurteile gegen Einwanderer gab.
Einwanderung ist eine komplexe Thematik. Und gleichzeitig ist es eine Thematik, die den Kern eines Gemeinwesens berührt. Ja, sie berührt jeden einzelnen von uns, denn letzten Endes geht es darum, wie wir unsere Mitmenschen behandeln. Hegen wir gegen neu zugezogene Menschen mit fremden Sitten und Gebräuchen andere Gefühle als gegen unsere anderen Nachbarn? Man braucht eine gewisse Offenheit und Aufgeschlossenheit, um Menschen zu lieben, die neue Gesichter und neue Herausforderungen bringen. Doch sagt nicht unser Meister Christus Jesus, daß wir alle fähig sind, unseren Nächsten zu lieben?
Jesus maß dem Gebot „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst" großes Gewicht bei. Aber wir fragen uns vielleicht, wie weit diese Liebe gehen muß. Können wir die Barriere einer fremden Sprache oder Kultur durchbrechen und alle unsere Nachbarn lieben?
Wir können unserer Liebe eine sichere Grundlage geben, wenn wir um die Quelle wahrer Liebe wissen. Die nie versiegende Quelle der Liebe — der geistigen Liebe, die weder Verfolgung noch Vorurteil kennt — ist die göttliche Liebe, Gott. Wie wichtig ist es, anderen in unserem Gemeinwesen ebensoviel von Gottes Zuwendung und Liebe zuzugestehen wie uns. Eines ist sicher, wir treten einem anderen Menschen mit Respekt gegenüber, wenn wir verstehen, daß seine Beziehung zu Gott die gleiche ist wie unsere. In Wirklichkeit sind wir alle die Söhne und Töchter Gottes.
Es ist das Wesen Gottes, das uns der Liebe fähig macht. Wenn wir zu erkennen beginnen, daß wir der Ausdruck des einen alliebenden Gemüts oder Geistes sind, entfalten sich eine Vielzahl guter Charaktereigenschaften. Eine geistige Einstellung unseren Mitmenschen gegenüber ist allerdings nicht gleichbedeutend mit Naivität in unseren Beziehungen zu anderen. Es ist ein wachsames Festhalten daran, daß Gott allumfassend ist. Mary Baker Eddy schreibt in Wissenschaft und Gesundheit: „Wenn wir uns vergegenwärtigen, daß es nur ein Gemüt gibt, dann hat sich das göttliche Gesetz, unseren Nächsten zu lieben wie uns selbst, entfaltet; wohingegen die Annahme von vielen herrschenden Gemütern des Menschen natürlichen Zug zu dem einen Gemüt, dem einen Gott, hindert und das menschliche Denken in entgegengesetzte Kanäle leitet, wo Selbstsucht regiert."
Wenn wir auch nur im geringsten verstehen, daß der Ursprung des Menschen geistig ist, werden einige der eingefleischten Vorurteile abgebaut, die in unserem Gemeinwesen über Einwanderer bestehen mögen. Diese anerzogenen Vorurteile und Ängste, die den Geist guter Nachbarschaft zerstören, zeichnen ein sterbliches Bild des Menschen. Sie sind falsche Annahmen, die davon ausgehen, daß der Mensch von seinem Gott getrennt ist und Ihm zuwiderhandelt. Doch wenn wir Freundlichkeit, Weisheit oder Schönheit in unserer Umgebung sehen — auch wenn sie in einer Weise zum Ausdruck kommen, die uns erst einmal fremdartig anmutet —, erkennen wir etwas von der geistigen Identität des Menschen als Widerspiegelung Gottes.
Um diese geistige Wirklichkeit angesichts äußerlicher Unvereinbarkeiten zu erkennen, bedarf es geistiger Weitsicht; doch dafür zu arbeiten, ist der Mühe wert. Denn wir können dann jemanden anschauen und in ihm den Menschen sehen, der die Ehrlichkeit, die Integrität und Güte seines Schöpfers, des göttlichen Gemüts, zum Ausdruck bringt.
Solange Einwanderer in unser Land strömen, bieten sich uns viele Gelegenheiten, Vorurteile abzulegen. Wenn wir dabei mit uns selbst beginnen, können wir dazu beitragen, in unserer Nachbarschaft ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl aufzubauen, eine Gemeinschaft von Menschen, die einen Gott haben und die lernen, einander zu lieben.
    