Als Nathanel, Einer der ersten Nachfolger Christi Jesu, das erste Mal etwas von unserem Meister hörte, sagte er: „Was kann aus Nazareth Gutes kommen!" Nathanael begriff sehr schnell, daß aus Nazareth sehr wohl etwas Gutes oder, genauer gesagt, jemand, der sehr gut war, kommen konnte.
Nathanael stammte aus Kana, einer mit Nazareth rivalisierenden Stadt, die nur wenige Kilometer von dieser entfernt lag. Natürlich ist eine so abschätzige Meinung, wie Nathanael sie über seine Nachbarn hatte, nicht auf Kleinstädte beschränkt, die vor vielen Jahrhunderten existierten. Derartige Gefühle können zwischen Nachbarn entstehen, die nur wenige Meter voneinander entfernt leben. Einmal hatten wir neue Nachbarn bekommen, die meinten, wir seien Juden. Ich weiß nicht, wie sie darauf kamen. Ich entsinne mich aber, wie erleichtert sie waren, als sie feststellten, daß das nicht zutraf. Ich war damals noch klein und hatte das Wesen von Vorurteilen noch nicht voll durchschaut; ich erinnere mich nur, daß ihre Erleichterung keine Erleichterung bei mir auslöste.
Dieser Konflikt, der zwischen Menschen entstehen kann, ist eine alte Geschichte. Kein Land und kein Ort ist vollständig frei von solchen Problemen. Wenn nun geistige Liebe und geistige Brüderschaft individuelle und kulturelle Unterschiede überwinden, so ist eine solche Erfahrung tatsächlich eine Heilung.
Vielleicht ist das der Grund, weshalb die Welt uns ein wenig freier erscheint, seitdem die Berliner Mauer gefallen ist. Nach Jahrzehnten ideologischer Auseinandersetzungen haben die Menschen neue Hoffnung für die Welt geschöpft. Es mag viel ungeprüfte Euphorie und Naivität bezüglich der zu erwartenden Herausforderungen gegeben haben, als Ost und West lernen mußten, neue Beziehungen aufzubauen und einander besser zu verstehen. Als aber die Menschen in vielen Ländern zu der Erkenntnis erwachten, daß Frieden und gegenseitiger Fortschritt wirklich möglich sind, war das unmißverständlich und echt.
Ich erinnere mich noch an einen Tag kurz nach der Öffnung der Grenzen in Europa. Zwei Besucher kamen am gleichen Tag in mein Büro, der eine aus Westdeutschland, der andere aus Ostdeutschland. Zwar stimmte ihre Beurteilung der Ereignisse nicht völlig überein, offensichtlich jedoch hatten die jüngsten Ereignisse bei beiden gemeinsame tiefe geistige Überzeugungen wirksam werden lassen. Beide waren Christliche Wissenschafter, die seit langem für die Schlichtung des Konflikts und die Lösung der Spannungen in ihrem geteilten Land gebetet hatten. Beide hatten in gewissem Sinne die fundamentale geistige Wahrheit erfaßt, daß der Mensch Gottes Kind ist, und diese Wahrheit hatte sich auf alle Aspekte ihres Lebens erstreckt und ihre Beziehungen zu anderen Menschen bestimmt.
Ich sah, welche Heilungsmöglichkeiten es im Kleinen im Leben dieser beiden Menschen gab, die durch Mauern, Stacheldraht, Bürokratie und Ideologie so lange voneinander getrennt getrennt waren. Und doch waren sie viele Jahre lang im Gebet miteinander vereint gewesen.
Unsere Vorstellungen von der Menschheitsfamilie sind untrennbar mit unserem Verständnis von Gott verknüpft. Solange wir meinen, daß Gott nur eine persönliche Macht ist, ein Abbild unserer eigenen Weltanschauung, Kultur und Ausdrucksform, von unserer Vorstellung, wie die Welt aussehen sollte, wird es auch weiterhin unüberbrückbar scheinende Gegensätze geben — in der Ehe, in der Nachbarschaft, in den Kirchen und in kleinen Orten wie auch auf der ganzen Welt. Wenn wir aber die Allheit und das unendliche Wesen Gottes geistig zu erfahren beginnen, erkennen wir auch, daß Er nicht durch persönliche, materielle Barrieren eingeschränkt werden kann. Er ist kein launisches Wesen, das sich für das geistige Wohl des einen einsetzt, aber nicht für das des anderen.
Die Entdeckerin und Begründerin der Christlichen Wissenschaft, Mary Baker Eddy, verstand, daß die wichtigsten Forderungen des Christentums — einen Gott zu haben und „deinen Nächsten [zu] lieben wie dich selbst" — über alle kulturellen und politischen Abgrenzungen hinausgehen. „Man sollte es von Grund aus verstehen", schreibt sie in Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift, „daß alle Menschen ein Gemüt, einen Gott und Vater, ein Leben, eine Wahrheit und eine Liebe haben. Die Menschheit wird in dem Maße vollkommen werden, wie diese Tatsache sichtbar wird, der Krieg wird aufhören, und die wahre Brüderschaft der Menschen wird begründet werden."
Brauchen wir nicht dieses geistige Verständnis, um das Trennende zwischen den Völkern zu überwinden?
Von Europa, einem Schlachtfeld, auf dem schreckliche Grausamkeiten gegen die Menschheit begangen wurden, werden wir in Zukunft grundlegende Lektionen lernen können. Materielle Grenzen, deren Aufgabe es lange Zeit war, die Völker voneinander zu trennen, haben diesen Zweck verloren. Doch nun kommen ethnische und regionale Feindseligkeiten wieder zum Vorschein. Wir sind alle am Wohl dieses Teiles der Welt interessiert, besonders wenn dort Freiheit, Menschenwürde und geistige Einheit im Leben von Millionen von Menschen Gestalt annehmen — bei Menschen, die nicht länger militärisch und durch die Gewalt verheerender Kriegswaffen voneinander getrennt sind.
Geistige Lektionen und Errungenschaften können von Europa aus die Herzen und das Denken der Menschen in Asien, Südamerika, Afrika, Nordamerika und dem Nahen Osten erobern, die sich nach Freiheit von ethnischen und rassischen Konflikten sehnen.
Immer wenn Menschen nach Freiheit und Würde verlangen, folgen sie damit einem angeborenen geistigen Sinn oder einer angeborenen geistigen Identität, die das wahre Selbst des Menschen als Gottes Kind bestätigt. Unser eigener Beitrag dazu ist wesentlich. Wir können diese Wahrheit erfassen und leben, indem wir in zunehmendem Maße die Beziehung unseres Nächsten zu Gott erkennen. Dann durchdringt das tatsächliche Erlebnis der Brüderlichkeit und Friedfertigkeit materielle und emotionale Abgrenzungen und kommt in unserem eigenen Beten und Tun zum Ausdruck.
Gebet, das sich danach sehnt, daß das geistig Gute sich im Leben aller Menschen zeigt, ist mehr als menschliches Verlangen. Durch solches Gebet entdecken wir Gott, der alle Seine Kinder als Seine geistigen Ideen kennt. Wenn wir in diesem Sinne geistig wachsen, werden uns die Augen geöffnet, und wir werden uns und unsere Mitmenschen so sehen, wie sie geistig sind; wir werden davor bewahrt, daß physische, ethnische oder ideologische Unterschiede, die von unseren eigenen vertrauten Gewohnheiten abweichen, uns blind machen.
Christus Jesus sah den Menschen in seiner geistigen Identität als Kind Gottes. Das war die Triebkraft seiner Liebe. Auch wir können zu diesem Verständnis gelangen und jene Liebe erleben, die zu Gott führt. Das heilt soziale und physische Krankheit.