Die Rede, Die ich mir ausgesucht und für meinen Shakespeare-Kurs auswendig gelernt hatte, war die bekannte Ansprache des Marcus Antonius aus Julius Caesar — „Mitbürger, Freunde, Römer, hört mich an.. .“ Stundenlang hatte ich mir den Wortlaut mit Pausen und Betonung gründlich eingepaukt, bis ich das Ganze fließend aufsagen konnte. Als ich es schließlich meiner Lehrerin vortrug, nickte sie höflich als Anerkennung für die Sorgfalt und Mühe, die ich aufgewandt hatte. Doch dann sagte sie mit einem leicht gelangweilten Lächeln: „Nun sprechen Sie es noch einmal — aber so, als ob Sie es auch wirklich meinten.“
Was für ein armseliger Marcus Antonius war ich gewesen! Da hatte ich eine Rede vor mir, die Tausende zum Schrei nach Gerechtigkeit aufstacheln sollte — und ich hatte nichts weiter darin gesehen als eine Aneinanderreihung nichtssagender Sprüche. Zwar hatte ich kein Wort ausgelassen, aber den tieferen Sinn der Rede hatte ich völlig außer acht gelassen. Ich hatte sie auswendig aufgesagt, aber nicht inwendig, aus dem Herzen heraus — und das ist ein gewaltiger Unterschied. Das eine ist bloßes Deklamieren, aber bei dem anderen weiß man wirklich, was die Worte bedeuten.
Nirgends ist diese Unterscheidung wichtiger als bei unserem Verhältnis zur Religion. So beruhte zum Beispiel Christi Jesu heilendes Wirken auf seinem unvergleichlichen Verständnis von Gott und der besonderen Beziehung des Menschen zu Ihm, einem Verständnis, das aus dem Herzen kam und die Herzen berührte. Jede menschliche Not, die vor ihn gebracht wurde, wurde gestillt, weil er wußte, daß der Liebe Gottes keine Grenzen gesetzt sind.
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