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„Ich suchte meine Mutter“

Aus der Oktober 2001-Ausgabe des Herolds der Christlichen Wissenschaft


Dagmar Nabert hat als junge Frau herausgefunden, dass sie adoptiert worden war. Sie war seit der Zeit auf der Suche nach ihrem geistigen Zuhause. Und diese geistige Suche nach Geborgenheit war das Fundament für ihre Suche nach ihrer biologischen Mutter.

Sie hat dem Herold erzählt, wie sie dabei einen inneren Frieden gefunden hat. Und das Ergebnis ihrer Suche nach ihrer Mutter war sehr überraschend.

Ich bin in der ehemaligen DDR aufgewachsen, in Bitterfeld. Mit 12 Jahren habe ich einfach durch eine Spielkameradin auf der Straße erfahren, dass meine Eltern nicht meine leiblichen Eltern sind und ich russische Eltern habe.

Und woher hat die Spielkameradin das gewusst?

Der ganze Ort, die ganze Straße hat es gewusst. Ich habe im Nachhinein erfahren, dass meine Mutter versucht hat, es vor mir zu verheimlichen. Als ich dies erfahren habe, tja, da ging für mich die Welt unter. Ich habe mich zurückgezogen, ich habe den Eltern nie erzählt, dass ich dieses Wissen habe.

Sie haben sie nie darauf angesprochen?

Nein. Für diesen jungen Menschen, der ich damals war, war alles praktisch verloren. Ich habe keine Freundschaften mehr aufbauen können, ich habe kein Verhältnis zu meinen Eltern mehr aufbauen können. Ich habe mich selber ins Abseits gestellt.

Und Sie sind das einzige Kind?

Ja. Wir sind dann 1956 von Bitterfeld nach Braunschweig gezogen. Alles ist in diesem einen Jahr passiert: Ich musste meine Heimat verlassen, ich wusste, ich würde dort nie wieder zurückkommen können, weil es ja die DDR war. Und dann dieses Wissen, das kam alles zusammen.

In Braunschweig, da war ich auch ein Exot. Ich hatte zwei Jahre Russisch gelernt in der DDR, also habe ich nie Englisch gelernt. Ich konnte nicht zweieinhalb Jahre nachholen in der Schule, also bekam ich Französisch als Pflichtfach. Ich hatte einen sächsischen Dialekt. Alles machte mich zu einem Exoten. Und da habe ich gesagt: „Du bist nichts wert, niemand mag dich, du hast russische Eltern.”

Es würde mich interessieren, warum Sie sich Ihren Eltern nicht anvertraut haben.

Das weiß ich nicht, das kann ich heute nicht sagen, ich weiß es nicht. Ich hatte ein gut behütetes liebevolles Elternhaus, immer! Und ich frage mich heute: Warum habe ich nie etwas gesagt. Es war mir einfach nicht möglich.

Ich habe gerne gemalt und habe mit Vorliebe Totenköpfe gemalt. Ich habe farbige Bilder gemalt, die nur Düsternis ausdrücken. Das war mein seelischer Zustand, das weiß ich heute, das wusste ich damals nicht.

Ja, und dann lernte ich mit 16 Jahren, 1960, meinen späteren Mann kennen. Er konnte zuhören, wir haben Spaziergänge gemacht, stundenlang. Da konnte ich das erste Mal über dieses Wissen sprechen. Da begann ich dann langsam wieder Luft zu holen und auch mal um mich und nicht nur in mich hineinzusehen.

Und dann lernte mein Mann bei der Abendschule, wo er sich weiterbilden wollte, einen jungen Mann kennen und die unterhielten sich sehr viel. Mein Mann erzählte mir dann immer von diesen Gesprächen und sagte immer: „Da ist so viel dahinter, aber ich weiß nicht, woher er diese Gedanken hat.” Und eines Tages hat er ihn gefragt: „Woher weißt du das alles, warum denkst du so und so?” Und da fiel das erste Mal das Wort „Christian Science”. Da haben wir ihn natürlich ohne Ende mit Fragen gelöchert. Wir fanden diese Ideen toll.

Haben Sie sich bis dahin überhaupt religiös interessiert?

Ja, das ist auch eine interessante Frage. Vom Elternhaus her sind wir beide nicht mit der Religion in Verbindung gekommen. Wir haben uns mit ganz jungen Jahren, mit 18, 19 Jahren eine Bibel gekauft und haben uns hingesetzt und haben diese Bibel gelesen. Und da kam dieser Schulkamerad und brachte nun Ideen, wie man die Bibel auch Verstehen kann. Da wurden wir aufmerksam, da haben wir gedacht: „Mensch, das ist es!”

Und da haben wir uns das Christian Science Lehrbuch, Wissenschaft und Gesundheit, gekauft und sind in die lokale Christian Science Kirche gegangen. Und wir haben nie wieder davon gelassen und haben viele, viele Heilungen erlebt. Auch in Bezug auf meine Situation. Ich habe mich ja in einem tiefen Dunkel bewegt und ich habe es empfunden, dass ich plötzlich mit dieser Helligkeit konfrontiert wurde. Und das hat mich frei gemacht.

Sie sagen, Sie waren als junger Teenager viel mit Tötenkopfen beschäftigt. Und das ist alles von Ihnen abgefallen?

Das ist von mir abgefallen! Aber meine Geschichte ist nicht abgefallen und ein Gedanke, der mich bewegt hat, war: „Wer hat dich geboren?”

Als ich heiraten wollte mit 20, da erfuhr ich aus den Urkunden den Namen meiner leiblichen Mutter, aber auch nur den Namen. Anne Deblewa ist mein Geburtsname.

Nach der Wende 1990 haben sich die Archive langsam geöffnet. Da habe ich mich wirklich intensiv hingesetzt und mir überlegt: „Wer ist wirklich dein Vater und deine Mutter?” Und da gibt es Antworten in Wissenschaft und Gesundheit und das hat mich sehr getröstet. Da heißt es dann, das Gott meine geistigen Eltern, das Gott mein Vater und meine Mutter ist. Und ich bin dieses geistige Kind. Diese Gedanken haben mich sehr befreit und mir geholfen auch nicht traurig zu sein für den Fall, dass ich nicht erfahre, wer meine Eltern sind. Ich habe ja den Vater-Mutter Gott, der mich hält, der mich mein Leben lang erhalten hat. Das war mir wichtig zu wissen. Und so konnte ich eigentlich sehr befreit auf diese Suche gehen.

Ich habe mich damit beschäftigt, dass es in Gottes Reich keine Ungerechtigkeiten gibt. Und auch mit dem Wort Prinzip. Das Wort Prinzip spricht mich immer sehr an. Im Prinzip geschieht immer zur rechten Zeit das Richtige mit Präzision.

Es heißt auch im Lehrbuch zum Beispiel: „Wahrheit bringt die Elemente der Freiheit.” Und Freiheit wollte ich erlangen, denn irgendwo hat mich ja immer diese Frage nach meiner leiblichen Mutter beschäftigt und davon wollte ich ja mal frei werden.

Gott gibt uns Antworten, auch wenn die vielleicht gar nicht so ausfallen, wie wir uns das vorgestellt haben, aber im Nachhinein sind sie immer richtig. Und darauf habe ich mich verlassen. Ich habe mich also wirklich unter den Schutz und die Führung Gottes gestellt. Im Lehrbuch heißt es nämlich: „Engel sind Gottes Gedanken, die zum Menschen kommen und allem Bösen entgegenwirken.” Und damit habe ich mich auch beschützt gefühlt.

Als ich so weit war, habe ich mich ganz intensiv in diese Suchaktion gestürzt. Ich habe gewusst, dass meine Mutter russische Zwangsarbeiterin in Deutschland war. Ich habe sämtliche Archive herausgesucht, telefoniert, geschrieben, aber so ganz kam ich nicht weiter. Dann bin ich mehrfach zum Roten Kreuz in Bad Ahrhausen gefahren. Das ist der internationale Suchdienst, bei dem sind ca. 20 000 Zwangsarbeitergeschichten registriert.

Eines Tages bekam ich einen Anruf vom Roten Kreuz und die sagten mir: „Die Redaktion der Sendung Fliege von der ARD (das war ausnahmsweise eine Suchsendung) hat sich an das Rote Kreuz gewandt und hat um einen Fall nachgefragt, der an die Öffentlichkeit kommen könnte, der interessant wäre. Wir werden Sie vorschlagen.” Von 20 000 Fällen. Da habe ich natürlich nicht Nein gesagt. Vier Tage vor dieser Sendung schickte mir das Rote Kreuz tatsächlich drei Informationen: einmal das Geburtsdatum der Mutter, den Herkunftsort (Belgorod, 700 Kilometer südlich von Moskau) und den Arbeitgeber, bei dem sie in Deutschland arbeiten musste. Und mit diesen drei Informationen kam ich am 10. Juni 1999 ins Fernsehen.

Gab es Resonanz auf die Sendung?

Es hat sich eine Frau gemeldet auf Grund dieser Sendung. Eine russische Dolmetscherin in Berlin, die aus Belgorod kommt, hat sich bei mir gemeldet und schlug mir vor, in einer Zeitung in Belgorod eine Suchanzeige aufzugeben. Belgorod ist eine große Stadt mit 400 000 Einwohnern. Und so habe ich meine Lebensgeschichte Schrieben und habe sie über viele Umwege an die Zeitung geleitet.

Es gibt in Belgorod eine Stelle, in der sich ehemalige Zwangsarbeiter melden können, um Bescheinigungen zu bekommen, und diese Zeitung mit meinem Artikel geht auch in dieses Amt. Und dort hat vor vielen Jahren eine Frau gearbeitet, die inzwischen pensioniert ist und die dort Kollegen besuchen wollte. Sie geht genau an diesem Tag, an dem diese Zeitung mit meinem Artikel dort liegt, in dieses Amt und da sitzen Frauen über diesem Artikel und sprechen darüber und sind ganz traurig. Und da kommt diese ehemalige Mitarbeiterin dazu und sagt: „Was lest ihr denn, warum seid ihr denn so traurig?” Und da liest sie diesen Artikel und ihr fällt der Name meiner Mutter auf: Klara Deblewa. Sie sagt: „Dieser Frau habe ich vor vielen Jahren eine Bescheinigung ausgestellt. Sie wohnt in meinem Haus.”

Die Stadt hat 400 000 Einwohner und das Apartmentgebäude dieser Frau hat 400 Wohnungen und die Frau erinnert sich an den Namen, der dort in der Zeitung steht. Jetzt geht sie hin mit diesem Artikel, klopft an die Tür und Klara Deblewa macht auf und da sagt sie: „Hatten sie eine Tochter in Deutschland, die Anna heißt?” Und da sagt meine Mutter: „Das hatte ich.”

Ich war inzwischen dreimal mit meinem Mann in Russland, um meine Mutter zu besuchen. Sie hat noch einen Sohn, ich habe jetzt einen Bruder. Unser großes Problem ist, dass sie nur Russisch spricht, und ich nur Deutsch. Wir gehen jetzt zur Volkshochschule bei uns, um Russisch zu lernen.

Und wie kam es, dass Sie von ihr damals getrennt wurden?

Sie musste in einem Arzt-Haushalt arbeiten in Jesnitz, 8 Kilometer von Bitterfeld entfernt, wo ich aufgewachsen bin. Sie war schon schwanger, als sie in diesen Haushalt kam, sie hatte es verschwiegen. Hätte sie es gesagt, hätte sie abtreiben müssen. Dieser Arzt hat sie kurz vor der Entbindung weit weggeschickt nach Magdeburg und er hat sie nicht wieder haben wollen, und da hat sie sich ohne Geld, ohne alles — ich bin am 18. Dezember 1943 geboren im tiefsten Winter — mit mir irgendwie durchgeschlagen, hat gebettelt, ob sie nicht bei diesem Arzt bleiben kann. Sie wusste nicht wohin und da hat er sie wieder aufgenommen und ich durfte dann also etwa ein Vierteljahr mit ihr dort wohnen.

Dann hat dieser Arzt sie gezwungen, mich in ein Heim zu geben. Da durfte sie mich einmal in der Woche besuchen. Dann wurde sie schwer krank, sie kriegte TBC und kam nach Dessau in Barracken für Zwangsarbeiter. Dann fielen Bomben auf Dessau und auch diese Barracken wurden getroffen.

Sie hatte einen Zettel bei sich, auf dem ein Gebet stand. Und sie sagt heute, dieses Gebet hat ihr das Leben gerettet. Sie ist durch Bombenhagel durchgelaufen, unverletzt, und (das war eines der ersten Dinge, die sie mir erzählt hat) sie glaubt heute noch, dass dieses Gebet ihr das Leben gerettet hat. Und sie hat noch etwas Wunderbares gesagt. Sie hat gesagt: „Ein Engel hat zeitlebens seine Hände über uns ausgebreitet, sonst hätten wir beide nicht überleben können und uns nicht finden können.”

Meine Mutter ist eine gläubige Orthodoxin und ihre Gedanken kommen auch meinen christlich-wissenschaftlichen Gedanken sehr nahe, denn im Grunde haben wir alle einen Gott.

Das Fernsehen hat meine Mutter im Februar 2000 nach Deutschland geholt. Sie konnte nach 55 Jahren wieder deutschen Boden betreten. Und ich bin unendlich dankbar, dass meine Mutter auch hier in Deutschland kein böses Wort gesagt hat. Sie hat nur Dankbarkeit geäußert. Und sie wollte zum Grab dieses Ehepaares, das sie gezwungen hatte, mich wegzugeben. Sie ist zu diesem Grab gegangen und hat sich tief verneigt und hat nur Dankbarkeit geäußert. Und dafür bin ich unendlich dankbar, dass diese Frau, die so viel Leid erfahren hat, noch heute Dankbarkeit äußern kann. Das finde ich wunderbar.

Die meisten Menschen glauben vielleicht, dass Wunder etwas sind, was von einer höheren Macht gesteuert wird. Das Lehrbuch von Mary Baker Eddy erklärt Wunder als etwas göttlich Natürliches, was menschlich verstanden werden muss. Das finde ich eine wunderbare Erklärung. Gott führt mich dorthin, wo mir das Beste präsentiert wird, in diesem Fall, meine lebende Mutter. Und diese Erfahrung führe ich nur die Lehren von Christian Science zurück, die mich gestärkt haben und mir immer wieder geholfen haben nicht aufzugeben. Dafür bin ich unendlich dankbar.

Ich möchte den Menschen sagen: Gebt nicht auf! Es gibt immer noch Möglichkeiten. Wenn ihr euch unter eine höhere Macht stellt, dann wird euch diese Macht führen und für jeden den richtigen Weg bereithalten.

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