Ein Held: Er besiegt alle Feinde mit seiner Geschicklichkeit und Kraft und trägt selbst keinen Kratzer davon. Er trifft schwierige Entscheidungen souverän und mit geistigem Weitblick und beweist seinen Widersachern, dass er ihren Unkenrufen zum Trotz Recht gehabt hat. Niederlagen kennt er nicht. Im Gegenteil: Unweigerlich rettet er am Ende die Prinzessin oder das Königreich, oder die Welt (Zutreffendes bitte ankreuzen). Außerdem ist er natürlich athletisch, sieht gut aus und alle Frauen liegen ihm zu Füßen.
So oder ähnlich sieht ein typischer Held aus, wie man ihn in dutzenden Kinofilmen, Romanen oder Videospielen trifft. Allgemein nimmt man an, dass sich jeder gern mit so einem Vorbild identifizieren würde.
Und dann kam Harry Potter.
Er ist 10 Jahre alt und hat keine Eltern mehr. Deswegen lebt er bei seiner Tante und seinem Onkel. Aber die halten nichts von seinen Eltern, die angeblich bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind. Für sie ist er ein Störenfried, der ihre heile Vorstadt-Welt in Gefahr bringt, eine pseudo-heile Welt, die nur von Intrigen und Heuchelei zusammengehalten wird.
Sie behandeln Harry lieblos, ungerecht, fast grausam. Er muss die alten Kleider von seinem Cousin auftragen, trägt eine zerbrochene Brille, weil Tante und Onkel zu geizig sind ihm eine neue zu kaufen, wird wegen seines strubbeligen Haares lächerlich gemacht und lebt in einer Kammer unter der Treppe. Er findet keine richtigen Freunde und wird von seinen Schulkameraden häufig als Prügelknabe behandelt.
Dazu kommt noch, dass er immer wieder unabsichtlich äußerst merkwürdige Situationen kommt, z. B. verschwindet im Zoo mit einem Mal das Glas eines Terrariums und die Schlange reißt aus. Oder der Kuchen in der Küche, der als Nachspeise bei einem großen Abendessen dienen soll, fliegt mit einem Mal an die Decke. Und immer sieht es so aus, als ob Harry dafür irgend-wie verant-wortlich wäre und er wird dafür bestraft.
Dann, an seinem 11. Geburtstag, kommt etwas an die Oberfläche, was ihm auf einmal Licht in sein Leben bringt:
Seine Eltern waren berühmte Zauberer, die beim Kampf mit einem bösen Hexer uns Leben kamen. Harry selbst hat als Baby diesen Kampf aus unerklärten Gründen überlebt (die Hintergründe dazu werden erst im Band 2 erzählt) und ist deswegen in Zauberkreisen bereits eine Berühmtheit. Harry besitzt ganz natürlich magische Fähigkeiten (das erklärt die verschwundene Glasscheibe und den fliegenden Kuchen) und er wird jetzt eingeladen, die Zauberschule Hogwarts zu besuchen.
Er trifft andere Kinder, die aus Zauberfamilien kommen, lernt, wie man mit einem Zauberstab und Zaubertränken umgeht, wie man auf einem Besen fliegt (was er übrigens sehr gut kann), wie man einen Umhang benutzt, der einen unsichtbar macht.
Man sollte denken, jetzt ist Harry in seiner Welt und findet endlich die Gerechtigkeit und Anerkennung, die ihm so lange vorenthalten wurde. Aber dem ist nicht so. Ja, er findet endlich echte gute Freunde. Aber bereits auf der Anreise zur Schule begegnet er auch den ersten Feinden. Er bekommt es mit strengen, manchmal ungerechten (und manchmal unmoralischen) Lehrern zu tun und er trifft auf den Mörder seiner Eltern, den bösen Zauberer Voldemort.
Die Stimme der Einsicht und des Weitblicks wird durch Dumbledore, den Leiter der Schule, verkörpert. Er ist ein überaus erfahrener Zauberer, mit viel Reife, Übersicht und Gelassenheit. Auch wenn er sich sehr im Hintergrund hält, versteht er doch zutiefst Harrys Situation.
Harry — ein strahlender Held? Sicher nicht. Ein durchschnittlicher Junge, missverstanden von Eltern und Lehrern, ungerecht behandelt von Mitschülern? Viel eher. Sicher, man mag davon träumen als unbezwingbarer Held die Welt zu retten. Aber das ist nicht realistisch. Jedes Kind und jeder Erwachsene wird bis zu einem Grad sagen können: Harry? Na klar, so bin ich auch!
Harry ist nicht jemand, der alle Ungerechtigkeit besiegt hat und nun im Glanz seiner Heldentaten von allen geliebt und gefeiert wird. Er muss sich mit Alltagsproblemen genausorumschlagen wie jeder andere.
Seine großen und kleinen Abenteuer muss Harry mehr oder weniger alleine mit seinen zwei oder drei Freunden bestehen. Und auch wenn Zauberkunst dabei eine gewisse Rolle spielt, so sind es doch sein Mut und seine Beharrlichkeit, seine Unschuld und Ehrlichkeit, seine Loyalität zu seinen Freunden, die ihn siegreich sein lassen. Sogar in Situationen, in denen andere, ältere Zauberer versagt haben.
Obwohl Harry ein Zauberer ist und damit Fähigkeiten hat, die die unsren übersteigen, stellt er mit diesen Eigenschaften einen engen Bezug zu jedem von uns her. Er kämpft gegen Ungerechtigkeit und für das Gute — und zwar im Wesentlichen mit Qualitäten, die auch jedem von uns zur Verfügung stehen.
Interessant ist das Phänomen, dass jede Kultur einen eigenen individuellen Bezug zu diesen Eigenschaften herstellt. Der Original-Harry Potter aus Großbritannien (Harry Potter lebt in England, auch wenn seine Autorin, Joanne Rowling, in Edinburg wohnt) unterscheidet sich auf dem Cover ganz deutlich von Harry aus Deutschland oder den USA. Und der französische zeigt deutlich französische Gesichtszüge. Inzwischen gibt es Harry Potter in 35 Sprachen zu lesen mit einer Auflage von 35 Millionen. Und diese Zahlen weisen deutlich darauf hin, dass nach dem „Held” Harry eine große Nachfrage besteht.
Die Autorin Joanne Rowling, eine alleinerziehende geschiedene Mutter, lebte von der Sozialfürsorge und schrieb Teile des ersten Bandes auf Servietten in einem Café, wo sie sich im Winter regelmäßig aufhielt, um Heizungsgeld zu sparen. Das hat sie heute als eine der erfolgreichsten britischen Autorinnen nicht mehr nötig. Aber Geld war nicht ihr Motiv zum Schreiben. Sie wollte Kindern in Harry Potter ein Vorbild geben, mit dem sie sich identifizieren können. Und nun können Millionen von Lesern — Kinder und Erwachsene — es nicht abwarten, bis der nächste Band erscheint.
Band Vier ist im Herbst 2000 im Carlson-Verlag erschienen. Mehr Informationen finden Sie unter www.harrypotter.de