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„Ich bin ein Palästinenser“

Aus der Februar 2001-Ausgabe des Herolds der Christlichen Wissenschaft


Dieser Nahostkonflikt brach an einem Donnerstagabend gegen 19 Uhr aus. Das Gute: Er war sechs Tage später durch einen umfassenden Frieden beendet. Der Vorgang hat die Titelseiten von Zeitungen und die Nachrichtensendungen nie erreicht. Aber weil er recht typisch für die Entstehung und auch Lösung von Konflikten ist, hier einige weitere Informationen.

Eine Gruppe von zwölf jungen Leuten, Oberschülern, Studenten, Berufstätigen versammeln sich in einer Berliner Abendschule, um Schwedisch zu lernen. Die junge Lehrerin aus Stockholm bittet die Teilnehmer sich vorzustellen und ein wenig zu erzählen, warum sie diesen Kurs belegt haben. Die elf Berliner Teilnehmer erzählen mehr oder weniger ausführlich über die Gründe, die sie in diesen Kurs geführt haben. Als letzter spricht Yourif. Er ist Palästinenser, stammt aus dem Gazastreifen und lebt seit zwei Jahren in Deutschland. Sein Deutsch ist voller Fehler, er ist schwer zu verstehen und er hat auch nicht erzählt, was seine Motive sind.

Augenlicklich treten Spannungen auf. Wie es aussieht (und wie er sich anhört) passt er nicht zur Mehrheit der Gruppe. Ich erlebe, wie sich die Gruppe gegen ihn wendet, ihn im Unterricht ignoriert, gelegentlich spitze Bemerkungen macht und ihn ausgrenzt.

Das gemeinsame Ziel Schwedisch zu lernen rückt in den Hintergrund. Das Trennende bestimmt die Atmosphäre.

Ich fühle mich unwohl in dieser Situation. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie schwierig es ist, im Ausland eine Fremdsprache zu erlernen, wenn schon die Unterrichtssprache nicht die eigene Muttersprache ist. Mut, Geduld und das Verständnis der Lehrerin sind da besonders wichtig. Wie auch die Kommunikation mit den Mitschülern. Und hier ist nun Feindseligkeit, offene (und was oft noch schlimmer ist) versteckte Ablehnung. Ich will beten. Ich weiß, wie oft mir im Gebet neue Gedanken gekommen sind, die eine Situation verändert haben.

Aber statt mich im Gebet an Gott zu wenden, bin ich bloß empört. Meine Empörung über die Haltung der Mehrheit wechselt mit Mitgefühl mit dem Palästinenser. Soll ich etwas sagen? Mir fällt nichts ein. Ich fühle mich hinund hergerissen.

Endlich kommt die Pause. Ich gehe auf den Flur. Auf der einen Seite steht die Mehrheit, ich höre Wortfetzen und merke, wie sie sich gegenseitig bekräftigen, „die Guten” zu sein. Und dass es gar keinen Sinn macht, den Ausländer irgendwie mit in den Unterricht einzubeziehen.

Schneller als ich dachte, ist die Pause vorbei. Ich habe noch immer nicht die rechten Worte gefunden, um vielleicht etwas zu sagen, was die Gemeinsamkeit betont. Alle gehen in den Klassenraum, setzen sich an ihre Plätze. Ich folge dem inneren Impuls, mich neben Yourif zu setzen. Schweigend. Aber in der Gewissheit das Richtige zu tun.

Im Handumdrehen bin auch ich ausgegrenzt. Ich spüre: In den Augen der anderen bin ich jetzt auch ein Palästinenser. Ich werde genauso ablehnend bis feindlich betrachtet wie Yourif. Auch ich passe nun nicht mehr in ihr Denkschema, bin ein Außenseiter, werde womöglich als Bedrohung angesehen.

In den nächsten Tagen bete ich viel. Damit meine ich, dass ich nachdenke wie Gott, der auch Liebe und Prinzip ist, mich und alle kennt. Er, das ist mir aus der Bibel schon klar, kennt keine „guten” und „schlechten” Menschen. Und — bei dem Gedanken muss ich lachen — Er macht aus einem guten keinen schlechten Menschen, bloß weil der sich im Schwedischunterricht an einen anderen Tisch setzt.

Es wird so klar, dass Diskriminierung und Ausgrenzung mentale Vorgänge sind. Yourif hat sich angeblich durch seinen Geburtsort, seine Art zu sprechen und sein Schweigen über die Motive Schwedisch zu lernen, für Harmonie und ein friedliches Lernen „disqualifiziert”. Ich hatte all diese — vermeintlich wichtigen — Voraussetzungen erfüllt, um mit den anderen auszukommen und mich in der Gruppe wohl zu fühlen. Und nun stehe ich trotzdem ausgegrenzt und angefeindet da. Es sind eben keine objektiven Gegebenheiten, die die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe regeln. Es kommt auf die Offenheit, die Nächstenliebe, Toleranz und Rücksicht jedes einzelnen Menschen an.

An den nächsten Unterrichtstagen gab es keine Veränderung des Klimas. Aber in meinem Denken formten sich Sätze über unser gemeinsames Lernen, die ich irgendwann sicher verwenden und aussprechen konnte. Am sechsten Unterichtstag war es so weit. Mein erster selbst formulierter schwedischer Satz lautete: Ich bin ein Palästinenser. Die Reaktion der anderen war verblüffend. Sie begannen zu lachen — laut zu lachen. Aller Hass war aus ihren Gesichtern gewichen. (Natürlich wussten alle, dass dieser Satz sich an die Äußerung des amerikanischen Präsidenten Kennedy anlehnte, der Jahre zuvor vor einer Million Menschen die Unterstützung der US-Regierung für Berlin mit den Worten zusammenfasste: „Ich bin ein Berliner.”)

Auch Yourif und ich mussten lachen. Aus Dankbarkeit und vor lauter Glück. Und die Schwedischlehrerin bat mich zu erzählen, warum ich so beharrlich an Yourifs Seite geblieben war. Nun sprudelte es aus mir heraus: Gott hat jeden Menschen zu Seinem Bild und Gleichnis geschaffen, wie die Bibel erklärt. Einheit, nicht Zwietracht, prägt das Denken der Menschen. Vorurteile trennen, Gebete vereinen. Paulus hatte eine sehr klare Auffassung davon, wie wenig Unterschiede zählen, und er formuliert das in der Bibel so: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.” Gal 3:28.

In meinen eigenen Worten gab ich eine Passage aus Wissenschaft und Gesundheit wieder, wo es heißt: „Der eine unendliche Gott, das Gute, vereint Menschen und Völker, schafft Brüderlichkeit unter den Menschen, beendet Kriege, erfüllt die Bibelstelle, Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst’, vernichtet heidnische und christliche Abgötterei — alles, was in sozialen, bürgerlichen, strafrechtlichen, politischen und religiösen Gesetzen falsch ist, stellt die Geschlechter gleich, hebt den Fluch über den Menschen auf und lässt nichts übrig, was sündigen, leiden, was bestraft oder zerstört werden könnte.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 340.

Alle Spannung war gewichen. Die Vergangenheit spielte keine Rolle mehr. Eine neue Form der Zusammenarbeit und echten Gemeinschaft begann. Sechs Tage nach Ausbruch des Konfliktes hat jeder Kursteilnehmer sich an diesem Abend von Yourif mit einer Umarmung verabschiedet. Da herrschte Friede. Hätte dieser Sieg der Versöhnlichkeit nicht auf die Titelseiten der Zeitungen gehört?

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