September 1985: Ich wollte gerade dem Kassierer an der Tankstelle meinen Geldschein geben um zu zahlen, als der Mann hinter mir mich einfach zur Seite schob und sich vordrängelte. Ich war baff. Und was mich noch sprachloser machte, war die Tatsache, dass sich offenbar niemand in der Tankstelle darüber wunderte. Ich schaute mit offenem Mund von einem Anwesenden zum anderen und wurde erst dann frostig bedient, als auch noch der nächste Kunde, der hinter mir gewartet hatte, sein Benzin bezahlt hatte. Was war passiert? Wo war ich? In Nevada.
Meine Frau und ich waren in einem Mietwagen auf Urlaubsreise im Westen der USA. Wir fuhren durch eine wilde, für uns fremde und faszinierende Landschaft: eine unendliche Weite, tiefblauer Himmel, flache Hügel mit niedrigem Gebüsch bewachsen, lange gerade Straßen bis zum Horizont. Die Nadel der Tankanzeige kroch immer dichter an den roten Reservebereich heran und es war keine Tankstelle in Sicht. Eigentlich war überhaupt keine Zivilisation in Sicht. Und es waren so gut wie keine Autos unterwegs.
Dann erschien zu unserer Erleichterung ein Wegweiser, der eine Siedlung andeutete. Siedlung bedeutete Menschen, Menschen bedeutete Autos, Autos bedeutete Benzin. Und tatsächlich, am Rand des Ortes, der aus etwa 30 Häusern bestand, gab es ein kleines Gebäude mit zwei Zapfsäulen davor. Dankbar füllte ich den Tank. Dann wollte ich zahlen. Dabei passierte das oben Beschriebene. Wieder im Auto berichtete ich meiner Frau etwas verwirrt, was eben geschehen war.
Ich wollte gerade zahlen, als der Mann hinter mir mich einfach zur Seite schob und sich vordrängelte.
Nur nebenbei war mir aufgefallen, dass alle Menschen hier sichtlich indianischer Abstammung waren. Und jetzt dämmerte es uns auf: Wir waren in einem Indianerreservat. Ich bin ein »Bleichgesicht«. Ich war soeben Opfer einer Rassendiskriminierung geworden. Mit einem Mal bekam ich weiche Knie als ich erkannte, dass manche Vertreter von Minderheiten ständig durchmachen müssen, was ich gerade bloß 15 Minuten empfand: Außenseiter zu sein, angestarrt zu werden, verächtlich behandelt zu werden.
Mein Ärger über die erlebte Diskriminierung schmolz dahin. Es ging ja gar nicht um mich. Es ging darum, dass ich als Vertreter der weißen Rasse ein Symbol für die Ungerechtigkeit war, die den Indianern so lange zugefügt wurde, ja, die sogar zum Teil bis heute andauert. Mein Ärger wandelte sich in Erbarmen, ein wenig auch in Scham.
Scham in Bezug auf das, was der »weiße Mann« dem »roten Mann« zugefügt hat, ja — aber es ging noch weiter. Scham darüber, wie oft ich-wenn auch nur im Stillen – in die Falle getappt war, einen einzelnen Menschen als Vertreter einer Rasse, einer Religion, einer Gedankenhaltung eigentlich abzustempeln und vorzuverurteilen.
Ich war soeben Opfer einer Rassendiskriminierung geworden. Mit einem Mal bekam ich weiche Knie ...
Und was ist die Folge? Man macht den Menschen zu einer Massenware und sieht nicht mehr die Individualität, die jeden auszeichnet, die jeden Einzelnen zu einem einzigartigen, wertvollen Geschöpf macht. So ein eingeengtes Denken öffnet dem Hass und der Furcht Tür und Tor. Menschen mit dunkler Hautfarbe, schwarzen Haaren und einem Schnauzbart wurden nach dem 11. September 2001 auf den Flughäfen der USA schnell schief angeschaut. Und seit den Londoner Anschlägen auch in Europa.
Natürlich kann man diese Furcht nachvollziehen. Aber wir können und dürfen sie uns nicht leisten. Denn sie beruht letztendlich nicht nur auf einem eingeschränkten Menschenbild, sondern auf einem falschen. Hautfarbe, Abstammung, Geschlecht, Sprache, usw., stellen nicht den Wert eines Menschen dar. Den finden wir nicht durch solche Klassifizierungen. »Wunderbar sind deine Werke. Das erkennt meine Seele«, sagt der Psalmist. Aha! Die Seele erkennt also die Werke Gottes. Und wie tut sie das?
Ich habe viele Jahre mit einem ausgezeichneten Toningenieur zusammen Radioprogramme produziert. Er war intelligent, einfühlsam, zuverlässig, detailorientiert, unterstützend, immer gut gelaunt und humorvoll. Einmal fragte mich ein Besucher, ob es mich nicht stören würde, dass er schwarz ist. Ich war ehrlich verblüfft. Und ich erkannte, dass mir diese Tatsache in all den Jahren nie so richtig aufgefallen war. Schwer zu glauben, aber es hatte mich tatsächlich nie so richtig interessiert. Ich hatte meinen Toningenieur immer mehr mit dem »Seelensinn« gesehen. Dieser Seelensinn weist uns auf den wahren Wert hin, den wir alle besitzen und der uns zu einem richtigen Begriff von Selbstbewusstsein führt.
Hass gegenüber Ausländern ist Furcht vor ihrer Andersartigkeit. Wer sagt uns, dass sie andersartig sind? Menschliche Klassifikationen. Was sagt uns der Seelensinn? Dass wir alle etwas Wunderbares gemeinsam haben: Wir sind alle individuell ein »Werk Gottes«, einzigartig und geliebt.
Der Seelensinn sagt uns, dass wir alle individuell ein »Werk Gottes« sind, einzigartig und geliebt.
Mit dieser respektvollen Haltung gegenüber Anderen befreien wir uns auch selbst von Klassifizierungen, die wir uns selbst übergestülpt haben mögen. Ist es nicht schön, sich und andere in einem neuen Licht zu sehen, das uns einen tiefen Einblick in unser wahres Wesen gibt? Dieser Seelensinn ist schon eine tolle Sache!