Der junge Bundestagsabgeordnete hebt beschwörend die Hände. Deutsche Leitkultur? Die gebe es doch gar nicht, wettert der Mann am Rednerpult: »Oder glauben Sie ernsthaft, dass Sie die Kultur junger, agnostischer Menschen in der Großstadt — ich selber bin bekennender Christ — mit der Dorfkultur vergleichen können?«
Moment mal! Was hat der gerade gesagt? Otto Fricke-ein bekennender Christ? Nein, dieser Rastlose entspricht nicht dem Klischee eines Hyperfrommen, der sich vor lauter Glaubensgewissheit innerlich zur Ruhe gesetzt hätte. Woher dann diese Bekennerfreude, lange vordem Wahlkampf 2005? Frickes Antwort überrascht durch ihre Selbstverständlichkeit: »Mir ist es in meinem Leben immer gut gegangen, ich bin dafür unheimlich dankbar. Ich bin mir sicher, dass jemand seine schützende Hand über mich gehalten hat.«
Solche Töne waren im Bundestag lange nicht zu hören. Doch jetzt rumort es im Hintergrund, eine neue Generation drängt nach vorn. Diese Jüngeren sprechen wieder über die eigene Religion, berufen sich auf christliche Werte-oder betonen einfach nur, dass sie gläubig seien. Kürschners Volkshandbuch heißt das rot-weiß gestreifte Bundestagsnachschlagewerk mit Bildern und Lebensdaten aller Abgeordneten.
Wer sich die Mühe macht, Altersangaben und Angaben zur religiösen Orientierung auszuwerten, stellt fest: In den 1994 und 1998 gewählten Bundestagen bezeichneten sich 65 Prozent der Abgeordneten als christlich; von den Abgeordneten der nun endenden Wahlperiode taten dies 68 Prozent; unter den nach 1960 Geborenen liegt der Anteil christlicher Mandatsträger noch höher, bei 75 Prozent. Zufall oder Trend? Werteorientierung ist wieder gefragt, Die Gesellschaft bedürfe einer »religiösen Musikalität« für die anstehenden Grundwertediskussionen, meint der Frankfurter Philosoph Jürgen Habermas. Tatsächlich beschäftigt seit dem Machtwechsel von 1998 eine Vielzahl von Wertedebatten die Politiker: Kann ein Militäreinsatz dem Frieden dienen? Verstößt embryonale Stammzellforschung gegen die Menschenwürde? Dürfen Forscher ihr Wissen über genetische Abläufe patentieren lassen? Dürfen Ärzte das Sterben erleichtern, indem sie medizinische Hilfe verweigern?
Der Bürger verlangt wieder Trittfestigkeit in Wertefragen. Mancher jüngere Politiker besinnt sich da auf seine christlichen Wurzeln ...
Schon vor sieben Jahren, im Wahlkampf 1998, wurde die Veränderung erstmals sichtbar. Damals musste ein Tross von Journalisten, der dem 68erStar Joschka Fischer auf Ostdeutschlandreise folgte, im thüringischen Dorf Ingersleben Halt machen. Die Journalisten ließen sich im urigen Pfarrgarten der Pfarrfrau Katrin Göring-Eckardt nieder ... Die damals 32-jährige Gastgeberin stand auf der thüringischen Landesliste der Grünen für den Bundestag.
Spielerisch-bürgerlich zeigte sich die Vertreterin der jungen Generation. Vier Jahre später war Göring-Eckardt zur Fraktionsvorsitzenden aufgestiegen. Eine Spitzenpolitikerin, die sich nach Feierabend ins Pfarrhaus, den Hort protestantischer Bürgerlichkeit, zurückzieht — so viel Konvention hat sich kein grüner Achtundsechziger erlaubt, nicht einmal die Polit-Theologin Antje Vollmer.
Nur ein starker Glaube bewahre Politiker davor, dem Machtrausch zu verfallen, behauptet der langjährige Hauptstadtkorrespondent Jürgen Leinemann. Das müsse kein christlicher Glaube sein. Aber an gläubigen Politikern habe er oft eine heitere Gelassenheit« erlebt. Der Abgeordnete Michael Roth, Europaexperte in der SPD, 35, ist vielleicht nicht immer heiter. Die Gelassenheit, aus Überzeugung abweichende Positionen zu vertreten, hat er schon. Zuletzt hat er sich für einen Gottesbezug in der europäischen Verfassung eingesetzt, gegen die Mehrheit in seiner eigenen Partei. Ein Glaubensfundament ist das beste Mittel gegen Allmachtsallüren«, sagt Roth. Es erinnert daran, dass es eine Macht über, neben und unter uns gibt.«
Edel, hilfreich und gut? Sind so die jungen Christen in der Politik, die jetzt Verantwortung übernehmen wollen? Nur eines ist sicher: Diese Nachwuchspolitiker sind keine Revolutionäre. Sie zerreiben sich nicht im Kampf gegen alles Alte, sondern nutzen die Kraft der abendländischen Tradition.
Aber macht nicht gerade das sie moderner als andere? Moderner jedenfalls als antireligiöse Eiferer und religiöse Fundamentalisten. Politik und Glauben können eine moderate und produktive Verbindung eingehen — das wollen die jungen Frommen zeigen.
Vom Autor autorisierte gekürzte Fassung. Der vollständige Artikel erschien in Chrismon — Das evangelische Magazin Ausgabe 09/2005, Seite 12-18
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