Sadik Jalal al-Azm, 1934 in Damaskus geb oren, ist ein Grenzgänger zwischen den Kulturen, ein Vermittler zwischen der arabischen und der westlichen Welt. Für seine Verdienste um eine Verständigung zwischen beiden Welten, die er jeweils mit einem kritischen, an Kant geschulten Blick ins Visier nimmt, hat der syrische Intellektuelle 2004 den Leopold-LucasPrels der Universität Tübingen erhalten sowie den Erasmus-Preis der Niederlande. Diverse Veröffentlichungen auch auf Deutsch.
Frage: Sie sind sowohl mit der westlichen Welt vertraut und deren Art zu denken als auch mit der arabischen. Welche Klischees beherrschen die gegenseitige Wahrnehmung?
al-Azm: Eines dieser Klischees auf westlicher Seite ist das, was ich den Trugschluss des »homo islamicus« nenne, Das be deutet: Was auch immer jemand tut, der sich selbst als Muslim versteht — sein Tun entspringt, gemäß diesem Klischee, grundsätzlich dem Islam. Er wird nicht wie jedes andere menschliche Wesen betrachtet. Dabei verhält es sich in Wirklichkeit so: manchmal handelt er wie ein guter Muslim, manchmal wie ein schlechter. Manchmal handelt er wie ein Nicht-Muslim und manchmal tut er Dinge, ohne sich um den Islam zu scheren. Das heißt, es gibt keinen Muslim, der immer nach dem Islam handeln oder sich vierundzwanzig Stunden am Tag an den Islam halten würde. Das meine ich mit dem Trugschluss des »homo islamicus«.
Frage: Ein weiteres Klischee?
al-Azm: Ein anderer Aspekt dieses Irrtums: Immer, wenn Sie verstehen wollen, was Muslime machen, sagen Sie: Wir müssen den Koran lesen. Okay, den Koran zu lesen ist hilfreich. Wenn Sie aber meinen, dass man alles, was Muslime tun, dadurch erklären könnte, dass man auf den Koran zurückgeht, dann irren Sie. Muslime sind wie alle anderen Menschen auch: Sie versuchen, ihre Handlungen zu rechtfertigen und zu rationalisieren, indem sie sich auf den Koran oder auf andere Autoritäten berufen. In den Koran zu schauen hilft, diese Rechtfertigungen und Rationalisierungen zu verstehen, nicht aber die wahren Motive, die hinter den Handlungen stehen und die mit dem Koran gar nichts zu tun haben können.
Frage: Dennoch hat es den Anschein, als würde der Islam eine Sonderstellung für sich reklamieren.
al-Azm: Das Gegenteil ist der Fall: Der Islam wird behandelt wie eine Religion, die irgendwie nicht so ist wie die anderen historischen Weltreligionen. Er ist irgendwie einzigartig, außergewöhnlich. Diese Art der Wahrnehmung stimmt nicht mit der Weise überein, wie Sie andere historische Weltreligionen betrachten, das Christentum etwa, den Hinduismus oder den Buddhismus. Ich glaube, dass das grundsätzlich falsch ist
Frage: Aber ist es nicht genau dies, was uns die Islamisten glauben machen wollen? Dass der Islam und Säkularismusunvereinbar miteinander sind?
al-Azm: Aber was wollen die Islamisten? Sie fordern, sofort die Scharia einzusetzen. Was heißt das? Das heißt, dass die Scharia nicht angewendet wird. Und da haben die Islamisten Recht, mit Ausnahme von Saudi-Arabien – und nun leiden die Saudis darunter. Keine arabische Gesellschaft wird von der Scharia regiert, mit Ausnahme des Familienrechts, das heißt, wenn es um Tod, Geburt, Heirat, Erbschaft oder Scheidung geht. ... Alles andere aber funktioniert nach modernen bürgerlichen Gesetzen.
Was sie re-islamisieren wollen, ist nicht die individuelle, private Glaubenssphäre: 95 Prozent der Araber sind Muslime und halten sich selbst für gute Muslime. Die Islamisten wollen den öffentlichen Bereich re-islamisieren, der aus der Kontrolle der islamischen Religion und des islamischen Rechts herausgefallen ist. Die Idee, wie sie in Europa vorherrscht, dass der Islam etwas irgendwie Außergewöhnliches ist, ist nicht wahr. Sie finden in den arabischen Gesellschaften eine öffentliche Sphäre, die nicht mehr von der Religion beherrscht wird. Andernfalls würden diese Islamisten gar nicht revoltieren. Sie revoltieren wegen dieser schleichenden Säkularisierung.
Frage: Betrachten wir nun die andere Seite. Welche Klischees beherrschen die arabische Sicht auf die westliche Welt?
al-Azm: Unsere Klischees über Sie? (lacht). Damit verhält es sich grundsätzlich sehr zweischneidig. ... Einerseits möchte man sein wie sie – und in vielerlei anderer Hinsicht möchte man nicht so sein.
Frage: Warum möchte man nicht so sein wie die Europäer?
al-Azm: Zum Beispiel, weil die europäischen Gesellschaften atomisiert sind. Weil sie keinen Familiensinn haben, keinen Gemeinschaftssinn. Das sind ein paar dieser Klischees.
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