Die Erfordernisse der menschlichen Erfahrung sind so zahlreich und so verschieden, daß es kaum eine Zeit gibt, wo sich der Mensch nicht vor irgendeine ernste Aufgabe gestellt sieht, die eine rasche Lösung verlangt. Manchmal sind die Forderungen so zahlreich und so dringend, daß man versucht ist, sich entweder der Entmutigung zu ergeben, oder Zuflucht zu sorgloser Gleichgültigkeit zu nehmen. Früher oder später aber lernt man, daß man der Verantwortlichkeit, die einem auferlegt worden ist, nicht ausweichen kann. Es wird der Sache damit nicht geholfen, daß man die Härte seines Loses beklagt, noch wird etwas erreicht, wenn man denkt, man könnte die Aufgabe eines andern leichter erfüllen und dieselbe würde mehr zur Wohlfahrt des einzelnen oder der Gesamtheit beitragen, als die eigne.
Was immer unsre Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen mag, ist nur einer der Zwischenfälle der menschlichen Erfahrung, die man einsichtsvoll behandeln muß. Je schneller man sich dieser Tatsache bewußt wird und willig ist, alles zu tun, was nötig ist, um der Lage gerecht zu werden, desto besser wird es für einen selber und alle Beteiligten sein. Ehrliche und gewissenhafte Tätigkeit in der Art und Weise, die als recht und gegen die Mitmenschen gerecht erscheint, obwohl die verfolgte Richtung unter den obwaltenden Umständen nicht die bestmögliche sein mag, ist viel besser als eine Untätigkeit, die einfach die Angelegenheiten sich ausarbeiten läßt, so gut es eben geht. Gerade durch treue, ehrliche Bemühung gewinnen wir die Erkenntnis, welche die Lösung unsrer Schwierigkeiten bringt.
Die Erfahrungen des einen scheinen oft denen eines andern zu widersprechen, und einer mag zur Lösung seiner eignen Aufgabe gerade das tun, was ein andrer als nachteilig für seine Angelegenheiten betrachtet; daher die Unzufriedenheit und vielleicht gar Uneinigkeit, die sich erhebt, um das Werk beider zu hindern. Es kommt dies daher, daß der eine die Bedeutung der Arbeit des andern nicht richtig zu schätzen weiß und nicht fähig ist, seine eignen Angelegenheiten in jener weitherzig-klugen Weise zu behandeln, die Gutes für andre und für sich selber bewirkt. Wenn eine individuelle Aufgabe wirklich gelöst ist, bewirkt sie Gutes und nur Gutes. „Recht tut niemand unrecht.” Wenn individuelle Angelegenheiten richtig geleitet werden, tragen sie zum allgemeinen Wohl bei, und wenn dies nicht geschehen ist, dann kann man nicht behaupten, daß die Sache erledigt sei.
In Wirklichkeit gibt es keine widerstreitenden Interessen. Das eine unendliche Gute ist allgemein sowohl wie individuell, und wenn der eine dieses Gute erlangt, so kann dies in keiner Weise dem andern zum Schaden gereichen. Es ist zu oft der Fall, daß Sterbliche nicht wirklich ihre Aufgaben zu lösen suchen. Sie haben eine Annahme oder eine Überzeugung in bezug auf das, was das Beste oder doch das Wünschenswerteste unter den obwaltenden Umständen ist, und sie bemühen sich, das gewünschte Ergebnis herbeizuführen. Wenn dann verschiedene persönliche Interessen auf dem Spiele stehen und die Sterblichen um das kämpfen, von dem sie glauben, es sei gut für sie, so entsteht leicht Zwietracht und Verwirrung. Der Grund der Schwierigkeit liegt gewöhnlich darin, daß sie falsch anfangen. Ihre persönliche Meinung über das, was für sie gut ist, ist der Ausgangspunkt, und ihre Bemühungen sind auf die Erreichung des gewünschten Zieles gerichtet. Das zu erlangen, was sie für die Lösung ihrer Aufgabe halten, ist ihr Bestreben, und wenn das Ergebnis so ist, wie sie es für richtig hielten, dann vermeinen sie einen Erfolg erzielt zu haben; wenn nicht, so schließen sie, sie hätten einen Mißerfolg zu verzeichnen und forschen nach der Ursache.
In Wirklichkeit ist es dem sterblichen Menschen unmöglich, vermöge seiner eignen Kraft die Aufgaben des Lebens zu lösen. Wenn er ehrlich und aufrichtig ist, mag er ernstlich beflissen sein, seine höchste Auffassung vom Guten zur Entfaltung zu bringen; aber er ist mehr oder weniger durch seine eignen persönlichen Meinungen und Wünsche gebunden. Er muß vor allem den Sinn der folgenden Bibelstelle erfassen lernen: „Denn Gott ist’s, der in euch wirket beide, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen.” Man muß sich der Tatsache bewußt werden, daß menschliche Annahme und menschlicher Wunsch nicht zum Ausgangspunkt gemacht werden können. Das Gebet drückt häufig bloß unser Bestreben aus, die Erfüllung unsrer Wünsche zu erlangen; daher der Ausspruch des Apostels: „Ihr bittet und nehmet nicht, darum daß ihr übel bittet, nämlich dahin, daß ihr’s mit euren Wollüsten verzehret.” Das Gebet oder Bestreben, das nicht rechter Art ist, führt die Lösung der Aufgabe nicht herbei. Wohl mag die neue Erfahrung wünschenswerter sein als die alte; aber damit ist nicht gesagt, daß sie mehr Anteil hat an der ewigen Wirklichkeit des Seins, noch beweist sie geistiges Wachstum.
Aus der Tiefe und dem Reichtum seiner eignen Erfahrung heraus schrieb Paulus: „Wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich’s gebührt”. Die Sterblichen sind selten weise genug, um zu erkennen, was für sie gut ist; daher die Worte: „Ihr bittet und nehmet nicht, darum daß ihr übel bittet”. Obschon nun die Menschen nicht verstehen, was zu ihrem Besten dient, so sind sie doch nicht ohne Hoffnung; denn Paulus fährt fort: „Der Geist selbst vertritt uns aufs beste mit unaussprechlichem Seufzen.” Der Meister lehrte seine Nachfolger beten: „Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel.” Wenn der göttliche Wille im Menschen geschieht, so bringt ihm dies nur Gutes, ohne seinem Nächsten Böses zu bringen oder denselben seiner Segnungen zu berauben. Wahrer Erfolg findet nie auf Kosten eines andern statt.
Paulus sah ein, daß ein Mensch selten erkennt, was seine Bedürfnisse sind und was zu seinem Wohl beiträgt. Ferner wußte er, daß die eine unendliche Macht, die Ursache aller Wirklichkeit, beständig zum Wohl des Menschen wirkt, indem sie das Gute ausarbeitet. Es tut der Menschheit vor allem not, sich dieser Tatsachen bewußt zu werden und die duldsame, selbstlose Anschauung über menschliche Angelegenheiten zu gewinnen, eine Anschauung, die die Lösung der Aufgaben des Lebens möglich macht. In dem Verhältnis, wie dies geschieht, sind die Sterblichen wahrhaft erfolgreich, und jede Erfahrung bringt eine deutlichere Verwirklichung des Himmelreichs „inwendig”.
Eine sehr nützliche Lehre kann aus der Arbeit des Mathematikers gezogen werden. Derselbe hat zahllose Aufgaben zu lösen. Manche sind einfach, andre sind verwickelt, und nicht wenige von ihnen stellen sein volles Verständnis von der Wissenschaft der Zahlen auf die Probe. Er beginnt seine Arbeit voll Vertrauen und Mut, denn er weiß, daß es möglich ist die gegebene Aufgabe zu lösen. Er wird nicht von dem Gedanken gestört, daß er etwas Unmögliches unternommen habe. Er weiß, es wird von ihm verlangt, daß er richtig anfange, daß er in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz der Zahlen einen Schritt nach dem andern tue. Geschieht dies, so kommt er zum Ziele, und das Ergebnis ist richtig. Anfangs kennt er die gesuchte Antwort noch nicht, und er sieht ein, daß es nutzlos wäre, dieselbe erraten zu wollen oder eine persönliche Ansicht hinsichtlich derselben zu haben. Er weiß, daß die Aufgabe gelöst werden kann und daß, wenn sie gelöst ist, sie zum Guten aller dienen wird, die dabei in Betracht kommen. Es kann sein, daß die Aufgabe ihn selber angeht und einen großen Aufwand an Geld und Anstrengung erfordert; aber er will nur das Rechte und macht sich wegen des Ergebnisses keine Sorgen, denn er weiß, daß es allen gerecht werden wird. Er ist willens, die Aufgabe auf die einzig mögliche Weise zu lösen und sich an das Ergebnis zu halten. Persönliche Meinung oder persönlicher Wunsch macht festen Gesetzen und Regeln Platz.
Alle Mathematiker stimmen überein in bezug auf das, was von ihnen verlangt wird. Ihre Arbeit kennt kein Zugeständnis persönlicher Meinung gegenüber. Die Wissenschaft der Zahlen ist sehr genau, und ihre Anforderungen werden von allen erkannt, die sie studiert haben. Daher besteht in der Arbeit der Mathematiker größere Übereinstimmung und Einheit als bei irgendeiner andern Klasse von Leuten.
Die Christliche Wissenschaft macht es klar, daß Gott das göttliche Prinzip alles dessen ist, was wirklich besteht. Allmählich fängt die Welt an einzusehen, daß alle Aufgaben des täglichen Lebens nur auf dieser Grundlage gelöst werden können. Persönliche Meinungen und menschliche Wünsche sind dieser Arbeit nicht gewachsen. Sie mischen sich gerne in die Lösung der Lebensaufgaben, können aber nur unsre Erfolge verzögern und müssen daher ausgeschieden werden, da sonst die Arbeit nicht zur Vollendung gelangen kann.
Die Einheit und Allheit Gottes ist der Punkt, von dem aus jede Frage beantwortet und jede Aufgabe gelöst werden muß. Man kann nicht von dieser Grundwahrheit abweichen und seine Arbeit recht verrichten, noch kann man auf Abwege geraten, wenn man verständnisvoll und in Übereinstimmung mit dem Prinzip arbeitet. Der Schüler der Christlichen Wissenschaft kennt die Antwort auf seine Aufgabe so wenig als der Mathematiker, bevor sie auf eine wissenschaftliche Weise ausgearbeitet worden ist. Er muß stets beten: „Nicht mein, sondern dein dein Wille geschehe!” und zwar nicht nur mit den Lippen, sondern auch mit dem Herzen. Eine persönliche Meinung hinsichtlich der richtigen Lösung irgendeiner Aufgabe zu haben, diese Meinung beständig im Sinne zu halten und auf dieses Ziel hinzuarbeiten: ein solches Verfahren ist nicht christlich-wissenschaftlich. Das Menschliche muß sich jederzeit vollständig dem Göttlichen ergeben. Man muß mit dein Prinzip anfangen, und jeder Gedanke, jede Bemühung muß in Übereinstimmung mit der Grundlehre sein, daß es nur einen Gott gibt und daß dieser Gott die einzige Ursache, Macht und Gegenwart ist.
Der Schüler der Christlichen Wissenschaft kann nicht wissen, welche Veränderungen im menschlichen Bewußtsein vor sich gehen, wenn das Materielle dem Geistigen Platz macht; doch weiß er, daß das Gute den Sieg davonträgt, und daß das Ergebnis Harmonie sein wird. Wenn eine Aufgabe auf der Grundlage des göttlichen Prinzips ausgearbeitet wird, so kann sich nur Gutes ergeben, und keine Frage ist je wirklich gelöst, bis sie auf diese Weise erledigt ist. Die Sterblichen müssen lernen Gott in ihnen wirken zu lassen „beide, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen.” Nur in dem Maße, wie sie dies tun, können sie einen dauernden Segen erlangen.
Es ist den Sterblichen unmöglich, durch die Anwendung des menschlichen Willens irgendeine Aufgabe auszuarbeiten oder irgendeine Frage wirklich zu lösen. Und wenn sie auch das vollbringen, was sie sich vorgenommen hatten, so kann das Werk doch nicht bestehen, weil es nicht auf das Prinzip gegründet ist. Wohl darf der Mensch ein bestimmtes Ziel haben und auf dessen Erreichung hinarbeiten; aber er muß nie vergessen, daß persönliche Meinungen nicht immer mit dem göttlichen Prinzip übereinstimmen. Wenn er die Aufgaben des Lebens in der richtigen Weise zu lösen wünscht, so wird er ebenso bereit sein einzusehen, daß seine persönlichen Ansichten unrichtig sind, wie er bereit ist, deren Richtigkeit bewiesen zu sehen; denn er versteht, daß man nur dann wirklich Erfolg hat, wenn man in Übereinstimmung mit dem göttlichen Prinzip arbeitet.
Paulus erklärte, daß „denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen”; und der Schüler der Christlichen Wissenschaft sieht die Wahrheit dieses Satzes immer klarer ein. Selbst wenn es ihm wegen seiner unrichtigen Verfahrungsweise nicht gelingt Harmonie zu verwirklichen, so muß auch dies den Zwecken des Guten dienen, denn es hat ihm die Augen geöffnet, und er sieht nun, daß er da unrecht hatte, wo er sich im Recht glaubte. Er ist nicht entmutigt, sondern freut sich vielmehr, daß er seinen Irrtum eingesehen hat und nun mit mehr Verständnis und größerer Sicherheit zu Werke gehen kann. Er lernt durch Erfahrung, daß er sich fester an das Prinzip klammern und sterbliche Annahmen und persönliche Meinungen mehr aus seiner Arbeit ausscheiden muß. Er setzt immer weniger Vertrauen auf seine eignen persönlichen Ansichten und immer mehr Vertrauen auf Wahrheit. Wohl mag er nicht wissen, was gut für ihn ist; doch ist er gewiß, daß Gott es weiß, und er fürchtet sich nicht, alles Seiner Obhut anzuvertrauen. Er ist nicht weniger tätig als früher; aber seine Anstrengungen nehmen eine andre Richtung. Während er vorher ununterbrochen auf das hinarbeitete, von dem er glaubte, es würde ihn ans ersehnte Ziel bringen, ist er jetzt ebenso treu in seinem Bestreben, die Erkenntnis zu erlangen, daß das göttliche Prinzip alles in vollkommener Harmonie leitet, das ewig Gute ausarbeitet, und daß es nichts gibt, was mit dem Werke der Wahrheit wirklich in Widerspruch geraten oder es wirkungslos machen kann. Er denkt weniger an das Endergebnis feiner Aufgabe als an das Werk der Lösung. Seine Arbeit wird das Ergebnis offenbaren, und das Ergebnis wird richtig sein und ihm und andern Segen bringen. Durch Erfahrung lernt er, daß selbst für die Gegenwart viel mehr erreicht wird, und er arbeitet zugleich seine ewige Erlösung aus. Mrs. Eddy sagt: „Wer in der Wissenschaft einen einzigen Lehrsatz versteht und ihr Prinzip dem Lehrsatz gemäß beweist, ist Herr der Lage” („Miscellaneous Writings“, S. 265).
Die Aufgaben der Kirchen und Vereine können nicht anders ausgearbeitet werden als die des Einzelnen. Auch die Meinung der Mehrheit ist nicht immer richtig. Es ist nie weise, eine menschliche Meinung als das vorgesteckte Ziel anzusehen. Der gegenwärtige menschliche Begriff vom Guten ist sehr begrenzt und sollte nie der Zweck des Strebens sein. Wie der Einzelne, so muß auch die Gesamtheit bei der Lösung ihrer Aufgaben vom göttlichen Prinzip ausgehen, und kein Gedanke, der mit dein göttlichen Prinzip nicht in Übereinstimmung steht, darf Raum haben. In persönlichen Dingen ist Einheit des Denkens nicht immer möglich, wohl aber da, wo das Verständnis und der Beweis des göttlichen Prinzips in Frage kommen. Wenn die Einheit des Denkens sowie die daraus sich ergebende Einheit der Tätigkeit zustande gebracht worden ist, so ist die eine notwendige Bedingung zur Lösung der Aufgabe erfüllt. Es bleibt nichts weiter zu tun übrig, als auf der gelegten Grundlage zu bauen. Möglicherweise ist das Ergebnis der Aufgabe ein ganz andres, als sich irgend jemand vorgestellt hat. Es ist jedoch ein höherer Sinn des Guten ans Licht gebracht worden, als möglich erschien, und es ist auf neue bewiesen worden, daß man mit dem göttlichen Prinzip beginnen und willig dem nie irrenden und unwandelbaren Gesetz des Guten gehorsam sein muß, wenn man die Aufgaben des Lebens richtig lösen will.
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