Es werden bisweilen über die Christliche Wissenschaft Fragen gestellt, die sich nicht ohne weiteres beantworten lassen. Erschwerend ist hierbei der Umstand, daß keine Religion mit dem Kopf allein erfaßt werden kann. Die Welt hat die verschiedensten Religionssysteme angenommen, nicht etwa weil dieselben eine leichte Lösung der Fragen über das Weltall enthalten — eine solche bietet keines —, sondern weil in der Regel die Menschen auf ihrer Suche nach einer Stütze für ihren Glauben sich naturgemäß demjenigen Religionssystem zuwenden, das ihnen am vernunftgemäßesten erscheint. Die meisten Religionssysteme enthalten Voraussetzungen, denen man leicht beistimmen kann; in allen aber, das muß zugegeben werden, führen gewisse Folgerungen jenseits der Grenzen gegenwärtiger menschlicher Erfahrung.
Ein uns bekannter Schüler der Christlichen Wissenschaft, der nicht einsehen konnte, warum nicht alle von dieser Lehre aufgestellten Behauptungen für ihn sofort verständlich waren, machte hier Einwendungen. Er meinte, er hätte einige Schriften über diesen Gegenstand gelesen und sich der Hoffnung hingegeben, die Christliche Wissenschaft sei „endlich einmal eine klare und logische Religion, die keiner Entschuldigung bedürfe.” „Mein Gemüt ist mein Reich”, zitierte er, „und dessen Herrschaft an ein mutmaßliches geistiges Verständnis abzutreten, für dessen Echtheit keine andern Beweise erbracht werden, als die Heilung dieses oder jenes Menschen, wäre doch ein ungleicher Tausch.” Er meinte ferner, ihm wäre klares Denken verbunden mit Krankheit lieber, als eine intellektuelle Tyrannei, die einen scheinbar gesunden und zufriedenen Gemütszustand hervorbringe.
Die geistige Erkenntnis, auf die hingedeutet wurde und die nötig ist, um die Christliche Wissenschaft zu verstehen, ist nun aber keine bloße intellektuelle Gabe oder Fähigkeit des menschlichen Gemüts, die manchen Menschen ganz unabhängig von ihrem Bildungsgang und ihrer Umgebung eigen ist, andern aber abgeht, sondern sie ist eine aus geistigem Wachstum hervorgehende und aus geistiger Entfaltung sich ergebende Fähigkeit, geistige Ziele zu erkennen. Keiner von uns hat sich völlig entfaltet; wir sind alle in einem Zwischenzustand, der Schmetterlings-Puppe ähnlich. Durch einen richtigen Denkprozeß und durch rechtes Leben haben aber viele Christlichen Wissenschafter durch die Hülle, d. h. die Einschränkungen dieser Welt von Sinneseindrücken soweit hindurchzublicken vermocht, daß ihnen jeder Zweifel hinsichtlich des Bestehens des rein geistigen Lebens geschwunden ist. Vermöge dieser geistigen Erkenntnis gewinnen viele Stellen in Wissenschaft und Gesundheit eine Bedeutung, die sie für diejenigen, welche diese Erfahrung nicht gehabt haben, nicht besitzen.
Hier ein Beispiel: Mrs. Eddy schreibt: „Die Welt des Irrtums weiß nichts von der Welt der Wahrheit — sie ist blind gegen die Wirklichkeit von des Menschen Dasein ..., hat keine Kenntnis von dem Leben, das in der Seele ist und nicht im Körper” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 13). Nun kann man einem Menschen das Verständnis der Wahrheit dieses Satzes durch bloßes verstandesmäßiges Erklären nicht beibringen. Seine Erkenntnis der Wahrheit dieser Worte wird durch seine Denkweise und Lebensführung bedingt, und wenn er diese Wahrheit erfaßt hat, besitzt er mehr als ein „mutmaßliches” Verständnis. Er erfährt die Wahrheit an sich selber. Wenn es ihm auch scheint, als seien manche Fragen, die das Studium der Christlichen Wissenschaft mit sich bringt, gar nicht zu beantworten, so wird er sie doch nicht von vornherein abweisen. Durch das sorgfältigere Lesen von Wissenschaft und Gesundheit werden viele Stellen für ihn eine neue, nie geahnte Bedeutung gewinnen. Solche Stellen haben die Darlegung derselben Wahrheiten schon immer enthalten, und diese Wahrheiten haben stets bestanden; aber der Leser ist nun geistig weiter vorgeschritten, streift eine weitere Hülle der Materialität ab und fängt an, der materiellen Welt zu entwachsen.
Als Kopernikus mit dem Studium der Astronomie begann, ahnte er höchstwahrscheinlich nichts von dem Lauf der Erde um die Sonne, und man darf annehmen, daß eine dem Sinnenzeugnis so entgegengesetzte Wahrheit selbst von einem klardenkenden und aufrichtigen Menschen zu Kopernikus’ Zeiten ohne vorausgehendes gründliches Studium nicht begriffen worden wäre. Es ist also nicht als „Entschuldigung” seitens der Christlichen Wissenschaft aufzufassen, wenn sie erklärt, man könne viele Fragen, die ihre Lehre aufwirft, erst dann verstehen, wenn geistiges Wachstum die notwendige Empfänglichkeit und somit die Fähigkeit geistiger Betrachtung entwickelt habe. Der geistig Gesinnte versteht manches, was der mehr materiell Gesinnte nicht zu erfassen vermag. Viele Dinge werden ohne Zweifel von manchen Christlichen Wissenschaftern verstanden, während sie von andern ebenso geweckten Menschen, deren Erkenntnisvermögen jedoch nicht in dieser Richtung geschult worden ist, nicht verstanden werden. Manche geistige Wahrheit wird überhaupt erst dann erfaßt, wenn die nötige Demut den Weg zu derselben geebnet hat.
Mit Demut ist hier nicht gemeint, daß man alles in der Christlichen Wissenschaft noch nicht Verstandene ohne weiteres glauben müsse. Wenn man soviel annimmt, als einem zunächst wahr und vernünftig erscheint, dies allen Ernstes praktisch anzuwenden sucht und darauf vertraut, daß sich das Verständnis für mehr später schon einstellen wird, so wird man finden, daß dies tatsächlich zutrifft. Wenn man das annimmt, was man von einem das ganze Weltall umfassenden Gegenstand zunächst versteht, und dann auf mehr Verständnis wartet, so bedeutet das keine „intellektuelle Tyrannei”, sondern es ist der dem gesunden Menschenverstand entsprechende Weg, auf dem intellektueller Fortschritt schon immer stattgefunden hat. Goethe sagt, der Mensch werde nicht geboren, um das Problem des Weltalls zu lösen, sondern um zu finden, wo das Problem beginnt, und sich dann auf die Grenzen des Faßbaren zu beschränken.
Zu der Goetheschen Anschauung können sich jedoch manche Leute nicht bekennen. Sie sind eher geneigt anzunehmen, es sei ihre Pflicht, das Problem jetzt schon zu lösen oder doch wenigstens jetzt schon zu verstehen. Viele große Geister haben dies auch versucht, so Plato, Aristoteles, Sokrates, Spinoza, Hegel. Dieser Philosophen gedenkt man als einer Gruppe großer Denker, und sie haben ohne Zweifel der Welt dazu verholfen, sich der Erkenntnis der beweisbaren Wahrheit zu nähern. Welchen Beweis haben wir jedoch dafür, daß auch nur einer von ihnen an das Ziel gelangt ist, welches er sich gesteckt hatte? Durch die Lösung der Weltfrage wären sie gewiß zu Wohltätern der Menschheit geworden. Was haben aber bloße philosophische Systeme im Vergleich zu dem, was die Christliche Wissenschaft schon während eines Menschenalters vollbracht hat, zur Besserung menschlicher Zustände und zur Linderung menschlicher Leiden beigetragen? Wohl haben einige dieser Denker erkannt, daß wir in einer Gedankenwelt leben; sie haben aber alle den Hauptpunkt übersehen: die praktische Anwendung des Gedankens durch dessen vermittels des Gebetes bewirkten Verbindung mit dem göttlichen Quell alles Denkens.
Wenn die Christliche Wissenschaft nur ein philosophisches System darstellte, so wäre die Ungeduld über das Unvermögen, alle Fragen sofort zu verstehen, die das Studium derselben aufwirft, noch eher begreiflich. Sie unternimmt jedoch mehr, als ein philosophisches System je unternommen hat, sie geht weiter als ein philosophisches System sich je vorgewagt hat, indem sie danach trachtet, das menschliche Leben, das wir alle kennen, mit der geistigen Welt, die sich uns nur in lichten Augenblicken eröffnet, in fortschreitend erlösende Beziehung zu bringen. Im Vertrauen auf die Wahrheit ihrer Behauptungen wendet sie dieselben praktisch an, und das ist mehr als ein bloßer Gedankenprozeß; es ist ein Verfahren, das dem in der Chemie oder in der Mathematik zur Anwendung kommenden entspricht, und besteht in Beweisen und Erläuterungen durch Demonstration. Wie man in der Chemie und in der Mathematik experimentiert und demonstriert, um Sätze zu erläutern und zu beweisen, so auch in der Christlichen Wissenschaft. Will man den Gegenstand vollkommen beherrschen, so muß man beim Studium dieser Wissenschaft ihre Regeln anwenden und ihre Richtigkeit beweisen. Mit dieser Demonstration kommt auch ein klarerer Blick, ein besseres Verständnis. Beharrliche geistige Arbeit in einer ganz neuen Richtung, sowie eine völlige Neugestaltung des eignen Denkens ist nötig, um eine Demonstration zustande zu bringen. Man darf sich also nicht wundern, wenn sich mancher nur langsam zurecht findet.
Könnte nun ein Mensch sicher sein — und er wäre dann der erfolgreichste unter den Philosophen —, daß er das Weltproblem vollständig gelöst hat, dann wäre „klares Denken verbunden mit Krankheit” vielleicht jedem andern Zustand vorzuziehen, vorausgesetzt, daß Krankheit solch ein erhabenes Denken begleiten würde. Hat ein Mensch ein derartig „klares Denken” erlangt, dann bringt er wohl keine Krankheit oder Disharmonie irgendwelcher Art mehr zum Ausdruck. Ist es nicht einleuchtend, daß „klares Denken” dieser Art vollkommene mentale und körperliche Harmonie mit sich bringen würde — die Fähigkeit, ein normales, nützliches und rechtschaffenes Leben zu führen? Wenn ein Mensch diese Resultate nicht erzielt hat, wie weiß er, daß er das universelle Problem gelöst hat — daß er wahrhaft klar denkt? Welch andern Beweis hätte er, als seine eigne Ansicht? Ehe also ein Mensch der Neigung folgt, seine geistigen Fähigkeiten zu hoch einzuschätzen, indem er sich einredet, daß sein Denken schon klar sei, sollte er sich vergewissern, ob er nicht ein Phantom des Wissens verfolgt, das weder ihm noch der Welt nützen kann. Er sollte ernstlich darüber nachdenken, ob er nicht durch weiteres eingehendes Studium der Christlichen Wissenschaft und durch treue Betätigung derselben zu der Überzeugung kommen würde, daß er die Wissenschaft der universellen Wahrheit gefunden hat.
Abstraktes Denken, dem kein wirksames Handeln zur Seite steht, hat in dieser Welt wenig Wert. Nur der nützliche Mensch, der seinen Gedanken Taten folgen läßt, der Positives leistet, wird beachtet. Ergebnisse bilden den einzigen Maßstab, nach welchem das Denken mit Sicherheit beurteilt werden kann. Es sollte sich ein jeder die Frage vorlegen, welche Resultate sein Denken ihm bisher gebracht hat.