Man kann den Charakter des Apostels Paulus wohl kaum besser kennzeichnen, als wenn man ihn mit einer mächtigen Eiche vergleicht, deren Wurzeln die Erde und das Gestein des Hügelabhangs umschlungen halten, und dessen starke, knorrige Äste dem Toben der Stürme Trotz bieten. Sein Glaube war tief gewurzelt, und er widmete sich der Aufgabe, „Christum, den Gekreuzigten” zu predigen, mit einer Hingabe, die wahrhaft begeisternd wirkt. Mit unerschütterlicher Treue führte er die Grundlehren des Evangeliums bis zu ihren letzten Konsequenzen. Er hatte stets den Mut, die Wahrheit zu bekennen, war fortwährend bestrebt, dem Meister nachzuarten, und trat für alles ein, was dessen Theologie umfaßte. Seine hohen Erwartungen in bezug auf das, was dem Menschen in geistiger Richtung bevorsteht, hat er in folgenden Worten treffend ausgedrückt: „Bis daß wir alle hinankommen zu einerlei Glauben und Erkenntnis des Sohns Gottes und ein vollkommener Mann werden, der da sei im Maße des vollkommenen Alters Christi”.
An andrer Stelle bezeichnet Paulus den höchsten Grad der geistigen Errungenschaft mit den Worten: „Christus in euch, der da ist die Hoffnung der Herrlichkeit”. Nach ihm hat kein Religionslehrer diese erhabene Auffassung von des Menschen Erscheinen in der Christusähnlichkeit in so hohem Maße gehabt, wie die Entdeckerin und Begründerin der Christlichen Wissenschaft. Viele treue Arbeiter an der Reichsgottessache sind ernstlich bemüht gewesen, das göttliche Ideal, insoweit sie es erkannt hatten, zur Verwirklichung zu bringen; dadurch aber, daß sie des Menschen Körper, wie die materiellen Sinne ihn darstellen, für seine wahre Wesenheit hielten, wurde ihr Auge getrübt und ihre Hoffnung gelähmt. Mrs. Eddy stieg empor auf den starken Schwingen der Paulinischen Auffassung von den Vorrechten des Menschen, woraus es sich erklärt, daß sie eine solche Höhe erreicht hat.
Dieser Gedanke von dem Erscheinen des Christus im menschlichen Leben durchdrang die Lehre des Meisters. Er erklärte aber und abermals, daß er mit der durch ihn zum Ausdruck kommenden geistigen Macht durchaus nicht einzig dastehe, sondern daß alle treuen Nachfolger es ihm gleichtun müßten. Er trug ihnen auf, wie er, den Vater zu erkennen, Seine Werke zu tun und Seine Macht auszuüben, um dann in seine Freude einzugehen. Dies ist die Lehre der Christlichen Wissenschaft. Sie bietet einen neuen Ausblick auf den ewigen Christus und macht die Worte des Meisters verständlich: „Ich will euch nicht Waisen lassen; ich komme zu euch.”
Wer diesen Punkt erreicht hat, gewinnt eine neue Auffassung vom Leben. Das Materielle und Alltägliche nimmt nun seine Aufmerksamkeit nicht mehr in schadenbringender Weise in Anspruch, denn er sieht, daß Gott das menschliche Schicksal lenkt und leitet. Wie für den großen Apostel, so ist auch für den wahren Christlichen Wissenschafter unsrer Tage der Gedanke, daß er alles vermag „durch den, der [ihn] mächtig macht, Christus”, ein dauernder Antrieb und ein Quell der Stärke. Er begibt sich nun mit ganz andrer Hoffnung auf Erfolg in den Kampf gegen die Regungen und Gelüste des sterblichen Gemüts.
Auf diese Weise bringt uns die Christliche Wissenschaft den Christus. Das Denken richtet sich immer mehr nach dem messianischen Vorbild, und die Demütigen fangen an, das Wort der Wahrheit zu stammeln, welches unser „älterer Bruder” mit solch großem Erfolg geredet hat. Der Meister sagte, wer in ihm bleibe, werde die Werke auch tun, die er tat. Wie natürlich und gesetzmäßig erscheinen uns jetzt diese Verheißung und ihre Bedingung! Die Bedingung bedeutet, daß wir jede Wahrheits-Behauptung des Meisters zu der unsrigen machen müssen, und zwar mit derselben verständnisvollen Liebe und demselben unerschütterlichen Vertrauen. Sie bedeutet, daß wir Vertreter von Leben, Wahrheit und Liebe sein sollen — von allem, was dem Guten angehört; daß es unsre Ausgabe ist, die Kraft des Christus zu beweisen. Wir erkennen nunmehr, daß die folgenden Worte des Jesaja auch uns gelten: „Und nach diesem will ich meinen Geist ausgießen über alles Fleisch, und eure Söhne und Töchter sollen weissagen”. Diejenigen, die eine demonstrierbare Erkenntnis vom Christus, von der Wahrheit erlangt haben, gehören zu den Auserwählten; sie genießen wahre Glückseligkeit. Das Sichbewußtwerden dieses großen Erbteils in Christus ist der Polarstern der Christlichen Wissenschaft.
