Der Durchschnittsmensch muß sich vor allem davor hüten, in eine mentale Gleichgültigkeit oder Erschlaffung zu verfallen. Auf diese Gefahr weist die Christliche Wissenschaft fortwährend hin. Sie läßt den Ruf des Apostels Paulus ergehen: „Wache auf!” Sie ermahnt den Menschen, auf der Hut zu sein und sich stets einer regen, tätigen, ehrlichen, reinen und richtigen Denktätigkeit zu befleißigen. Sie weist ihn auf Gott und den von Ihm geschaffenen Menschen hin, auf des Menschen geistige Ausrüstung, auf seine Hilfsmittel, auf die Verpflichtungen, Probleme, Gelegenheiten und den hohen Zweck des Lebens. Sie zeigt uns den Christus-Weg, den Pfad aufwärts, auf dem wir alle wandeln müssen. Die Religionslehren haben zu viel Gewicht gelegt auf die Ermahnung: „Glaube nur!”-— auf einen blinden Glauben, der nicht nach höherer geistiger Erkenntnis strebt. Wer einen solchen Glauben hat, läßt gerne andre seine Probleme ausarbeiten, seine Vorrechte bestimmen und sein Denken besorgen. Es ist daher kein Wunder, daß es in der Christenheit so viele Menschen gibt, die geistig untätig sind und geradezu in abhängiger Abergläubigkeit leben.
Die Christliche Wissenschaft weist darauf hin, daß die Wahrheit der folgenden Worte des Apostels Johannes von einem jeden bewiesen werden kann: „Wir wissen aber, daß der Sohn Gottes kommen ist und hat uns einen Sinn gegeben, daß wir erkennen den Wahrhaftigen.” Sie lehrt, daß der wirkungsvolle Glaube an sich höchst intelligent ist, selbst in schlichten und einfachen Leuten; daß er das Denken anregt, belebt und veredelt; daß er bestrebt ist, seine Behauptungen zu demonstrieren; daß er zwar eine Gabe Gottes ist, aber nur von dem erlangt werden kann, der wachsam ist, der den Mut nicht sinken läßt, wenn sich seinem rechten Streben Schwierigkeiten entgegenstellen, und der nur darauf bedacht ist, sein Lebensproblem auszuarbeiten.
Es hat jemand gesagt, daß, wenn man den Schwierigkeiten des Lebens entgehen wolle, man als Auster hätte geboren werden sollen. In diesen Worten liegt ein tiefer Sinn. Je höher die Stufe der menschlichen Existenz, desto größer der Forschungskreis, desto wichtiger die Probleme, die sich dem Denken aufdrängen, desto größer die Möglichkeit des Schmerzes und der Freude. Ein stumpfer Sinn ist mit einem engen Wirkungskreis zufrieden und verlangt dementsprechend wenige Erklärungen; er nimmt das, was er um sich her sieht, als selbstverständlich an und denkt nicht gerne über höhere Dinge nach. Die Notwendigkeit, aus diesem Zustand der mentalen Schläfrigkeit aufzuwachen, kommt in Mrs. Eddys Worten zum Ausdruck, wenn sie sagt: „Es ist wesentlich, das, was auf das Engste mit den, Glück des Seins verknüpft ist, zu verstehen, anstatt es nur anzunehmen”, denn nur „das Verständnis der Wahrheit verleiht volles Vertrauen zur Wahrheit” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 218). Dieses Verständnis kann nur durch jene innere Anschauung erlangt werden, die einen hohen Grad der mentalen Wachsamkeit voraussetzt, oder durch jene Art der Beweisführung, welche, wenn sie vom Besonderen aufs Allgemeine schließt, die Aneignung und Einteilung all der Tatsachen umfaßt, auf denen eine richtige Verallgemeinerung beruht, oder welche, wenn sie aus dem Allgemeinen das Besondere herleitet, jene Wertschätzung wahrer Voraussetzung und logischer Folgerung in sich schließt, die die wahre Stärke fortgesetzten richtigen Denkens ist.
Dieser wissenschaftliche Begriff vom Wesen des Glaubens bewirkt eine zweifache Überzeugung, die für den Christen von höchster Bedeutung ist: Erstens, daß die Inspiration und Heilkraft der Jünger nicht das Ergebnis einer unerklärlichen geistigen Gabe war, die nur ihnen zuteil wurde, sondern das unausbleibliche Resultat ihres Verständnisses von geistigem Gesetz, welches der Meister kundtat und dessen Wirksamkeit er bewies; zweitens, daß dieses Gesetz der Wahrheit auch heute noch verstanden werden kann und für alle geistig gesinnten Menschen anwendbar ist. So lehrt also die Christliche Wissenschaft, daß die Erlösung des einzelnen auf einem göttlichen Einfluß beruht, auf der Unveränderlichkeit von Wahrheit und Liebe, sowie auf der Rechtschaffenheit, die sich durch richtiges Denken und richtiges Handeln bekundet. Es gibt kein verständnisloses Aufwärtsschreiten.
Für den christlichen Idealisten ist der Gedanke an den Umfang und die Fortdauer der Tätigkeit des göttlichen Gemüts so überwältigend, daß er vor Staunen und Bewunderung auf die Knie sinkt. Der Eindruck ist derselbe, ob er eine sich öffnende Knospe betrachtet, oder ob er durch ein Fernrohr die Wunder des mächtigen Himmels schaut. Und wenn er sich daran erinnert, daß der Mensch der höchste Ausdruck des göttlichen Gemüts ist, so fängt er an einzusehen, wie abnorm die Schläfrigkeit und Gleichgültigkeit des sterblichen Sinnes ist. Der Ruf, wachsam zu sein und richtig zu denken, wird für ihn zur Donnerstimme, und er erkennt, wie nie zuvor, die Wichtigkeit der Ermahnung: „Also auch ihr, haltet euch dafür, daß ihr der Sünde gestorben seid und lebet Gott”.
