Nachdem wir in der Christlichen Wissenschaft angefangen haben, Gott als Prinzip zu erkennen, kommt es uns manchmal vor, als ob uns durch den Verlust des alten Begriffs von Gott als einer Art höherem Menschen auch die Wärme und der Trost, die uns ein solcher Begriff brachte, verloren gegangen seien. Wenn wir jedoch unsrer neuen Erkenntnis gemäß leben und immer und immer wieder beweisen, daß Gott allmächtiges Leben, allmächtige Wahrheit und Liebe ist, gelangen wir zu der Überzeugung, daß ein gründliches Verständnis dieses unveränderlichen Prinzips trostreicher und hilfreicher ist als irgendein früherer Glaube an einen persönlichen Gott.
Auf die Voraussetzung, die alle Christlichen Wissenschafter als Grundlage ihrer Religion anerkennen, daß Gott Geist, das unendliche Gute, die einzige Ursache und der einzige Schöpfer ist, folgt logischerweise der Schluß, daß Seine Schöpfung ein geistiges Weltall ist, und daß das Gute die einzige Macht sein muß. Seit Jahrhunderten ist von der Kanzel herab gepredigt worden, Gott, das Gute, sei allmächtig. Und doch hat die Menschheit an ihrer Überzeugung festgehalten, daß sie in einer materiellen Welt lebe, wo eine Macht, genannt das Böse, viel tätiger sei als das Gute.
Für den sterblichen Sinn ist Gott nicht Prinzip — der „Vater des Lichts, bei welchem ist keine Veränderung,” sondern viel eher eine der Mythologie entliehene Vorstellung. Er hält Ihn für ein rachsüchtiges, launenhaftes, unzuverlässiges Wesen. Die Bibel sagt: „Gott ist Liebe;” aber die Menschen haben an einen Gott geglaubt, der Seinen Kindern schreckliche Krankheiten sendet, um sie zu züchtigen; der die eine Pflanze harmlos und die andre, welche ebensoschön ist, giftig macht und dadurch das unschuldige Kind, das im Walde Blumen pflückt, gefährdet; der sich so ausgiebig mit den sterblichen Gesetzen besaßt, daß Er die Menschen ungestraft mit nassen Händen herumgehen läßt, sie jedoch mit einer Erkältung straft, sobald sie nasse Füße bekommen; der freigebig gegen die einen ist und die andern ihrer Habe beraubt; kurz, der alles „nach Seinem Wohlgefallen” tut, wie der Katechismus sagt, und nicht nach unveränderlichen, unparteiischen Gesetzen handelt.
Die Christliche Wissenschaft lehrt, daß Gott Prinzip ist, und das Wörterbuch definiert Prinzip als „grundlegende Wahrheit.” Das Wort Irrtum stammt von dem lateinischen errare, was „ungewiß, ohne bestimmtes Ziel umherirren” bedeutet. Könnten das Gute und das Böse besser definiert werden? Gott ist unveränderliches Prinzip; Irrtum ist ein ungewisses, zielloses Umherirren, ein flackerndes Irrlicht. Es ist der Christlichen Wissenschaft vorgeworfen worden, sie sei abstrakt und gehe über das Begriffsvermögen des gewöhnlichen Menschen hinaus. Tatsächlich aber ist sie die erhabene geistige Lehre Christi Jesu, und als solche geht sie allerdings über die sinnliche Wahrnehmung hinaus; aber dies schließt nicht aus, daß sie zugleich die praktischste Lehre ist, die es gibt. Das Prinzip ist unfehlbar, unveränderlich, handle es sich um das Einmaleins oder um das Berechnen der Sternenbahnen. Die Astronomie mag als abstrakt bezeichnet werden, stützt sich aber auf die gleichen unveränderlichen Grundelemente der Mathematik wie die Additionen und Subtraktionen in unserm Haushaltungsbüchlein.
Finden wir, die wir die Christliche Wissenschaft kennen, in Krankheitsfällen das Prinzip kalt und unbefriedigend? Erkennen wir es nicht vielmehr als etwas, auf das wir uns vertrauensvoll verlassen können, als eine „Hilfe in den großen Nöten”? Angenommen, eine Mutter hat ein krankes Kind und glaubt, Gott sei eine Person, deren Wille durch ihre Gebete beeinflußt werden könne und in deren Hand das Schicksal des Kindes liege. Trotz ihrer inbrünstigen Gebete, daß ihr Liebling erhalten bleibe, weiß sie nicht, ob nach Seinem Gutdünken das Kind leben oder sterben solle. Sie fürchtet, durch ihr Flehen um das Leben des Kindes sich gegen Gottes Willen aufzulehnen, sie hofft, Er werde es leben lassen, und weil sie nicht weiß, daß Gott das Leben selbst ist, wendet sie die materiellen Heilmittel an, die ihr am wirksamsten erscheinen.
Sie entscheidet sich für eine gewisse medizinische Richtung. In dieser Wahl hat sie keinen andern Anhaltspunkt als persönliche Ansichten, althergebrachte Gewohnheiten, und fürchtet daher, daß sie sich irren möge. Tatsächlich ist alles, was sie tut, von Furcht und Zweifel begleitet. Sie ruft den Arzt herbei. Ist er auch der richtige? Wäre ein andrer nicht vielleicht zuverlässiger gewesen? Dann die Behandlung. Welche Medizin und wieviel? Was für eine Diät beobachten? Welche Luft hereinlassen und welche fernhalten? Hunderte von Fragen stellen sich ein, und die gute Mutter hat kein bestimmtes Gesetz, worauf sie sich stützen könnte. Es ist nichts als ein unsicheres Umherirren. Angsterfüllten Herzens stammelt die Mutter: „Dein Wille geschehe,” ohne zu wissen, daß Gott stets nur das Gute will. Ihr größter Wunsch ist, ihrem Kind das Beste zu geben, aber sie entbehrt jeder Richtschnur, nach der sie entscheiden könnte, was dieses Beste ist. In allem, was sie unternimmt, fürchtet sie einen Fehler zu begehen, ja sie weiß nicht einmal, ob ihre Annahme, daß Gott ihr Kind zu erhalten wünsche, Seinem Willen entspricht.
Ganz anders verhält es sich, wenn eine Mutter, die Anhängerin der Christlichen Wissenschaft ist, ein krankes Kind hat. Von Anfang an besteht nicht die geringste Ungewißheit über den einzuschlagenden Weg. Ihr Gott ist nicht eine willkürliche Person, sondern das allmächtige Leben, die allmächtige Liebe und Wahrheit, das unveränderliche Prinzip, der „Vater des Lichts, bei welchem ist keine Veränderung.” Daher wendet sie sich vertrauensvoll an Ihn. Wenn sie sagt: „Dein Wille geschehe,” so weiß sie, daß Sein Wille nur Gesundheit bewirkt. Sie weiß, daß Gott, der das Leben ist, keine Gedanken des Todes hegt. Für sie gibt es nur eine medizinische Richtung, nur einen Arzt, die göttliche Wahrheit. Sie wendet sich vertrauensvoll an die Wahrheit, und durch das Wirken der Wahrheit wird der Glaube an das Böse vernichtet. Auch wenn sie die Hilfe eines Praktikers in Anspruch nimmt, bleibt gleichwohl die Wahrheit Heilmittel und Arzt. Ungewißheit irgendwelcher Art gibt es nicht für sie. Praktiker, Mutter und Kind arbeiten nach dem unveränderlichen Prinzip, welches alles Böse mit dem Guten überwindet. Sie sind überzeugt, daß Gottes Idee nichts kennt als Leben, Gesundheit und Harmonie. Es herrscht keine Ungewißheit oder Aufregung oder Furcht vor einem falschen Schritt. Sie weisen jedes Furchtgefühl zurück und trachten ruhigen Herzens nach dem Willen des göttlichen Prinzips — nach dem Willen des allmächtigen Lebens, der allmächtigen Wahrheit und Liebe.
Kann demnach das Prinzip, das nur zum Guten wirkt, das nie wankt, das stets eine Hilfe ist „in den großen Nöten,” als kalte Begriffsbildung betrachtet werden? Ist die Mutter, die sich auf die Christliche Wissenschaft verläßt, ohne Stütze? Findet die andre Mutter durch das Anwenden materieller Hilfsmittel und das Vertrauen auf einen persönlichen Gott Frieden und Trost? Für alle, die sich in Zeiten der Not wegen Sicherheit und Hilfe auf das göttliche Prinzip verlassen haben, gibt es nur eine Antwort. Gott ist nicht ein Wesen, das nur Leben, Wahrheit und Liebe zum Ausdruck bringt — Er ist die Liebe, die Wahrheit und das Leben selbst. Kann die allgegenwärtige, allwissende und allmächtige Liebe eine kalte Begriffsbildung sein?
Die Christliche Wissenschaft geht über die menschliche Wahrnehmung hinaus; sie trägt uns auf ihren Schwingen zu den Bergeshöhen der Wahrheit. Aber auch wenn wir wieder in das Tal des Alltagslebens zurückkehren, verläßt sie uns nicht, sondern bleibt bei uns und bringt uns der Verwirklichung des aus der Höhe geschauten Heils jeden Tag etwas näher.
Wenn du der Stunde dienst, beherrschest du die Zeit;
Wirk auf den Augenblick! Er wirkt in Ewigkeit.