Da „die Liebe des Gesetzes Erfüllung” ist, so besteht der höchste Dienst, den der Mensch leisten kann, in der Veranschaulichung seiner Einheit mit Gott, im Erbringen praktischer Beweise seiner Beziehung zur göttlichen Liebe. Nur dadurch wird die Einheit Gottes und des Menschen für die Menschheit zur praktischen Wahrheit und greifbaren Wirklichkeit. Gott bekundet sich Seinen Kindern, und die Christliche Wissenschaft macht uns die Art und Weise dieser Bekundung klar. Sie führt uns zu der Erkenntnis, daß die Liebe nur durch liebevolle Gedanken und Taten und nicht durch deren Gegensatz zum Ausdruck kommt, und da das höchste erreichbare Ziel geistige Vollkommenheit ist, so wird der höchstmögliche Dienst der sein, der das Gesetz der Vollkommenheit erfüllt, nämlich das Gesetz der Liebe. Wenn der geliebte Jünger Johannes heute unter uns wäre, würde er wahrscheinlich auch an uns die Worte richten, die er während seines Wirkens auf Erden fortwährend an seine Schüler gerichtet haben soll: „Kindlein, liebet einander.”
Wenn alle Wissenschafter gleich dem großen Apostel erkennen würden, daß es weder in Zeit noch in Ewigkeit einen menschlichen Ersatz für die Beweisung der göttlichen Liebe gibt, so wäre das Gedeihen unsrer Sache unendlich größer. Wer die Liebe aus den Augen verliert, verliert auch das Heilen aus den Augen; und ohne Heilen fehlt der Kirche Christi die rechte Grundlage. Ohne christliches Heilen gibt es keine christliche Einheit, keine Brüderschaft, keine genaue oder wissenschaftliche Kenntnis, keine rechte geistige Tätigkeit. Wir können der Menschheit keinen großen Dienst leisten, wenn wir die Liebe, die wir bekennen, nicht praktisch betätigen. Ein rühriger Arbeiter im Weinberge des Vaters ist nur derjenige, der die Tür seines Bewußtseins weit zum Empfang der aus der unendlichen Liebe hervorgehenden Christus-Idee öffnet. Er strebt ernstlich danach, allen Haß durch Liebe zu überwinden. Dies erfordert stete Wachsamkeit. Keine falschen Gedanken dürfen ins Bewußtsein dringen und das Christusbild trüben. Eine leichte Aufgabe ist das nicht, aber es ist ein Werk der Liebe und bildet den höchsten Dienst.
Jahrhunderte sind vergangen, seit die denkwürdigen Worte gesprochen wurden: „Wer nicht liebhat, der kennet Gott nicht; denn Gott ist Liebe;” und doch haben bis jetzt nur wenige ihre wissenschaftliche Bedeutung erfaßt. Ebenso wahr ist, daß wer nicht liebhat, den Menschen nicht kennt, denn der Mensch ist der Ausdruck der göttlichen Liebe. Die Christliche Wissenschaft lehrt: „Liebe Gott und halte Seine Gebote: denn das ist der ganze Mensch in Seinem Bild und Gleichnis” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 340). Hiermit ist unzweifelhaft der Begriff geistiger Tätigkeit gegeben, denn ohne eine solche Tätigkeit wäre eine bewußte Liebe zu Gott oder die Erkenntnis Gottes undenkbar. Bewußtsein bringt stets Leben und Tätigkeit zum Ausdruck. Da der Mensch der Ausdruck des unendlichen Gemüts oder der göttlichen Liebe ist, so entspricht er der Tätigkeit des Gemüts, die auf immer das Wesen Gottes zum Ausdruck bringt. Er ist nicht ein gleichgültiges, unbestimmbares, farbloses, im unsichtbaren Äther schwebendes Bild, sondern die stets bewußte, stets tätige Kundwerdung der stets gegenwärtigen Liebe. Nur durch, geistige Erkenntnis erschließt sich uns das Wesen dieses auf ewig von der Liebe untrennbaren Menschen sowie die eigentliche Bedeutung von Dienst und Gehorsam.
Wenn wir Gott, die göttliche Liebe, über alles lieben, so fehlt es auch nicht an einer göttlich-natürlichen Art, dies der ganzen Welt offenbar werden zu lassen. Jeder himmlische Segen wartet unser, wenn wir nur das Wort Gottes, die Kundwerdung der Liebe, durch Gedanken, Wort und Tat voll zum Ausdruck bringen. Die Liebe allein wirkt erhebend und belebend auf das wissenschaftliche Bestreben. Ohne Liebe ist kein wahrer Dienst möglich. Was nicht in Liebe geschieht, ist nur Zeitverschwendung, denn es drückt nicht die Tätigkeit des Guten aus. Eine schwere Last würde der Menschheit abgenommen, wenn sie die Bedeutung des Liebesdienstes erfassen könnte. Diese Erkenntnis erschließt sich uns nur durch Selbstverleugnung.
Der Mensch, der da glaubt, er habe ein eignes Gemüt und einen eignen Willen und könne aus eigner Kraft handeln, erkennt die Bedeutung des Liebesdienstes nicht. Schon der Umstand, daß er sich als sterblich betrachtet, bildet zwischen ihm und Gott, der Geist ist, eine Kluft, und schließt den Zufluß der Liebe ab. Solange er nicht durch die Christliche Wissenschaft lernt, vom Menschen abzulassen, „der Odem in der Nase hat,” und den neuen Menschen anzuziehen, „der da erneuert wird zu der Erkenntnis nach dem Ebenbilde des, der ihn geschaffen hat,” solange wird ihm die Wiederspiegelung der göttlichen Liebe unbekannt bleiben. Mit andern Worten, der Glaube an die Sterblichkeit des Menschen ist keine Bekundung, kein Ausdruck der göttlichen Liebe. Erst wenn der Mensch in der Christlichen Wissenschaft als geistig und unsterblich erkannt wird, kann die Einheit Gottes und des Menschen anschaulich bewiesen werden. Die Unsterblichkeit läßt sich auf Grund einer falschen Voraussetzung, nämlich der Sterblichkeit, nicht beweisen. Liebe ist das Wesen der Unsterblichkeit; Haß der Grundirrtum der Sterblichkeit.
Die heuchlerische Art, die dem Mitmenschen angeblich Liebe entgegenbringt, im Geheimen aber eine Schar böser Gedanken beherbergt, die jederzeit in Tätigkeit gebracht und einem verderblichen Zweck dienstbar gemacht werden können — diese Art entspricht weder dem Buchstaben noch dem Geist der Christlichen Wissenschaft. Die Christliche Wissenschaft ist ganz und gar echt, und so muß auch alles sein, was sie zum Ausdruck bringt. Es gibt keine schlechte oder gleichgültige Christliche Wissenschafter. Was auch immer ein echter Wissenschafter tut, das tut er aus Liebe. Durch einen solchen Dienst allein wird er zum Christlichen Wissenschafter. Der Liebesdienst bildet den einzigen Beweis von der wahren Beziehung des Menschen zu Gott. Nur durch ihn wird die Menschheit dem Verständnis geistiger Wirklichkeit entgegengeführt. Er allein verschönert das menschliche Leben, bringt Trost und Heilung und wirkt erneuernd.
So wollen wir denn die Aufrichtigkeit unsres Interesses für die Christliche Wissenschaft beweisen, und zwar dadurch, daß wir die volle Rüstung des Glaubens anlegen und mutig vorwärtsdringen zum veredelnden Kampf um die Vollkommenheit. Wir werden aufgefordert, das Beste in uns darzubringen. Alles Mittelmäßige oder Gemeine muß zum Schweigen gebracht werden. Überall, wo die edle Menschlichkeit die Hände anlegt, wird sie an ihren Werken erkannt. Wo Liebe herrscht, kann es keinen Eigennutz geben, keinen Groll, keinen Neid, keinen ungezügelten Ehrgeiz, keine Feindschaft, Selbstüberhebung oder üble Nachrede, keine Sucht, sich in fremde Angelegenheiten zu mischen. Nur Liebesdienst, der das eigne Gute in dem eines andern sucht, ist da zu sehen.
Die Dankesbezeugungen derer, an die christlich-wissenschaftliche Schriften verteilt worden sind, beweisen, daß Werke der Liebe Früchte tragen. Es bietet sich stets und überall Gelegenheit, Gutes zu tun. Wir müssen den kleinen Dingen im Alltagsleben dieselbe Aufmerksamkeit zuwenden wie den größeren. Nichts darf unberücksichtigt bleiben. Sei die Aufgabe noch so gering — wenn Liebe der Beweggrund des Handelns ist, so wird der Dienst zu einem freudigen und wirksamen, denn Liebe macht uns zu jeder Arbeit tüchtig.
Sehr verbreitet ist der Irrtum, fortwährend hervorzuheben, daß man so viel materielle Arbeit zu verrichten habe. Hier ist nun zu beachten, daß alle Tätigkeit mental ist, nicht physisch. Sogenannte materielle Arbeit wird selten leicht verrichtet. Sie ist mit mehr oder weniger menschlicher Anstrengung verbunden und bringt oft Erschöpfung und Leiden mit sich. Man sollte bedenken, daß richtig arbeiten beten bedeutet, und daß jeder Dienst, den die Liebe fordert, ohne schlimme Rückwirkung und ohne Beschwerden getan werden kann. Liebesdienst bringt Frohsinn, Frieden, Freude und Zufriedenheit mit sich. Dies war „das gute Teil,” das Maria seinerzeit erwählte. Sie wußte, daß es Arbeit zu verrichten gab, erkannte aber, daß sie weniger physisch als mental war, während Martha von Jesus den Ausspruch vernehmen mußte, sie habe „viel Sorge und Mühe”— weil sie nämlich ihre Arbeit als etwas Materielles auffaßte und glaubte, man lasse sie dieselbe allein verrichten. Maria empfand, daß, wenn sie erst bereit wäre, den Worten des Meisters zu lauschen, die hierdurch empfangene geistige Förderung zur rechten Zeit in liebevollem Dienst zum Ausdruck kommen würde, gleichviel in welcher Richtung.
Die Maria-Naturen vermehren sich heutzutage rasch, und ihr liebevoller Dienst, wobei es auf die Aufgabe nicht ankommt, vor der sie sich gestellt sehen, verhilft jeder sorgenvollen Martha zu der Erkenntnis, daß es im Grunde genommen nur mentale Arbeit gibt, und daß, wie unsre Führerin sagt, Liebe der Befreier ist. (Siehe Wissenschaft und Gesundheit, S. 225.)
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