Die Seligpreisungen haben auf die Erfahrungen des Sterblichen Bezug — von der Zeit an, wo die ersten Strahlen der Wahrheit in sein Bewußtsein dringen und es läutern und umwandeln, bis zur Erlösung des einzelnen, wo das Gute ununterbrochen durch ihn wirkt und er einer Stadt gleicht, „die auf einem hohen Berg liegt.” Durch ihre wunderbare Übereinstimmung miteinander erwecken die Seligpreisungen eine frohe Hoffnung in uns und regen uns dazu an, mit Hand anzulegen am Werk der Erlösung der Menschheit von der Last der Krankheit und Sünde, des Kummers und des Todes.
Mit hoher geistiger Erkenntnis ausgerüstet, sprach Jesus in seiner ersten Predigt von dem Jammer und der Hoffnungslosigkeit des menschlichen Daseins, zugleich aber von der allmählichen Umwandlung dieses Daseins unter dem erhebenden, machtvollen Einfluß der Wahrheit. Unbekümmert um das veränderliche Bild des menschlichen Lebens bekräftigt er ohne Unterlaß des Menschen göttlichen Ursprung und die ihm jederzeit zu Gebote stehende Macht des Guten. Seine Worte entsprechen der Stimme in der Offenbarung: „Siehe, ich habe vor dir gegeben eine offene Tür, und niemand kann sie zuschließen.” Die Lehren, die sich aus den Seligpreisungen ziehen lassen, sind ohne Zahl, und mit wachsendem Verständnis sammeln wir „hie ein wenig, da ein wenig,” bis schließlich das ganze menschliche Bewußtsein von der Wahrheit durchsäuert wird.
Jesus erkannte die geistlich Armen in der versammelten Menge, aber sein Geist blieb auf jenes bleibende Bewußtsein des Guten gerichtet, das den Menschen auf ewig als „nicht gefallen, ... rechtschaffen, rein und frei” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 171), als „gesegnet” kennt, als nur das Gute wollend. Falsche Ideale und Maßstäbe haben viele Menschenkinder veranlaßt, so manches anzunehmen, was mit dem Guten nicht im Einklang steht. Glück und Heil wird aber nicht durch menschliche Satzungen oder menschlichen Besitz verwirklicht. Das Denken muß auf das göttliche Prinzip gegründet sein, und um Gesundheit und Frieden zu finden, muß Leben von diesem Ursprung aus demonstriert werden. Jesus verkündete die Einheit des Menschen mit Gott als die Grundlage, auf der gebaut werden muß.
Dem fortschreitenden Gemüt wird das Wesen des menschlichen Selbst klar, ihm wird der Irrtum aufgedeckt. Dies mag ihm bisweilen wie ein Schritt rückwärts erscheinen, bedeutet aber tätsächlich einen Schritt vorwärts. Wenn der Schleier von den Dingen gehoben wird, die sich auf den materiellen Sinn gründen, und wenn dann Adam, der sterbliche Mensch, sich selber gegenübersteht, verschwinden die Scheinbarkeiten, hört die Idealisierung seiner eignen Persönlichkeit sowie der Persönlichkeit andrer auf, und Betrübnis erfüllt ihn, weil er so wenig dem entspricht, was er sein sollte. Er erkennt, daß in ihm nichts ist, was ihn von menschlichen Mängeln und Gebrechen befreien könnte. Weder Reichtum, Ruhm, menschliche Liebe, Kunst, Literatur noch irgendwelche menschliche Erfindung kann ihm helfen oder Heilung bringen. Aber allmählich dringt durch das dunkle Gewölk ein Schimmer des Trostes. Er sieht, daß es ihm doch möglich ist, die Beschränkungen des sterblichen Sinnes zu überwinden, sich über dieselben zu erheben. Sein geistiges Auge richtet sich auf den stets gegenwärtigen Christus, der da segnet und erlöst. Dankbarkeit erfüllt ihn beim Gedanken, daß er durch Beseitigung der alten Vorstellungen und Gedankenbilder und durch das Einströmenlassen des Lichtes sein Leben auf der Grundlage von des Menschen göttlicher Sohnschaft aufbauen kann.
Eine andre Seligpreisung lautet: „Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.” Selbstverdammung findet hier keinen Platz. Bei diesem großen Werk hilft kein Bedauern und Jammern; nur klares, logisches Denken führt zum Ziel. Persönliche Fragen bieten nun nicht mehr das gleiche Interesse wie früher; statt dessen wird das eigentliche Problem sowie die eine unendliche Weisheit, die allein die Lösung bewirken kann, klar erkannt. Demut ist für diesen Dienst bereit, sie äußert sich in Selbstbeherrschung und ruhigem Warten auf die rechte Zeit zum Vorwärtsgehen, auf die göttliche Führung. Sie entspricht dem Sinn des Samuel, denn ihre Antwort auf den göttlichen Ruf lautet: „Hier bin ich.” Demut sucht, weder Stellung noch Macht, sie hegt keine Gefühle des Neides gegenüber denen, die Stellung und Macht haben, denn Demut kennt den Platz, den sie im göttlichen Gemüt einnimmt; sie weiß, daß sie ihres göttlichen Erbes, das mehr wert ist als alle menschlichen Errungenschaften, nicht beraubt werden kann. Daher sagt Mrs. Eddy: „Kein Gefühl der Entfremdung, kein Hader, kein Trug dringt in das Herz, das liebt, wie Jesus liebte” („Message for 1902,“ S. 18). Jesus ist das vollkommene Vorbild der Demut und des Gehorsams. Demütig sein ist kein Vorsichniederblicken, sondern ein Aufblicken; es ist die Umschau des Heerführers, der seine Kräfte sammelt und sich zur Aktion vorbereitet.
Eine andre tröstende Verheißung ist, daß die, die da „hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit,” satt werden sollen. Wenn sich einem Menschen das Verständnis vom Wesen der göttlichen Liebe auch nur in geringem Maße erschließt, so sehnt er sich nach einem höheren Grad dieses Verständnisses, und zwar umfaßt dieses Sehnen sowohl den Antrieb wie die Fähigkeit, mehr zu erlangen. Er fängt an, an die Erfüllung von Gottes Verheißungen zu glauben; er gewinnt die Überzeugung, daß er die Wahrheit dieser Verheißungen beweisen kann. Tätigkeit ist der Grundton dieser Seligpreisung, das rege Verlangen nach Gelegenheit zu nützlicherem Dienst. Carlyle sagt: „Selig ist der Mensch, der seine Arbeit gesunden hat.” Ein solcher Mensch demonstriert das Gesetz Gottes, dessen Erfüllung in seiner Wirksamkeit liegt. Sein Verständnis wird umfassender, in dem Maße, wie er aus dem „unausforschlichen Reichtum Christi” zu schöpfen versteht. Dieses Verständnis hebt Irrtümer auf, sobald es mit ihnen in Berührung kommt, genau wie das Licht die Finsternis verscheucht. Auf dieser Stufe der praktischen Erfahrung geht es wegen der stattfindenden Chemikalisation mehr oder weniger unruhig zu; aber durch Demut wird das Gleichgewicht wieder hergestellt, und Barmherzigkeit und Liebe gewinnen allmählich die Oberhand.
Die Verheißung, daß die Barmherzigen Barmherzigkeit erlangen werden, steht im Einklang mit dem öfters geäußerten Grundsatz unsres Meisters, daß ein Mensch erntet, was er gesät hat. Was ein Mensch gibt, das wird ihm vierfach vergolten. Wahrer Reichtum ist geistiges Verständnis, geistige Liebe. Kein größeres Geschenk ist dem Menschen gegeben, denn seine unendlichen Möglichkeiten schließen alle andern Geschenke in sich. Richtiges Denken ist stets wirksam, es kennt weder Stillstand noch Tod. Es ist unsichtbar, aber stets gegenwärtig, wurde zurückgedrängt und jahrhundertelang mit Füßen getreten, kommt aber als die Christus-Botschaft heute voll Kraft und inniger Liebe in unser Leben. Diese Seligpreisung der Barmherzigen ist bei der Überwindung der Tadelsucht — einer der verderblichsten Irrtümer — besonders hilfreich. Kein Mensch vermag einen andern zu richten. Kein Mensch kennt des andern Herz, seine guten Taten oder seine Fehler, außer dieser Mensch selber. Die Christliche Wissenschaft bringt der Menschheit die heilende Anschauung der Vergebung von Sünde durch deren Tilgung. Sie ist die Stimme des Christus, der uns auf den sturmbewegten Wellen entgegenkommt.
Wir wollen ganz besonders auf die Zusicherung achten, daß „die reines Herzens sind,” Gott schauen werden. Diesen mentalen Zustand hat der erreicht, der fähig ist, den Druck und Zwang der Welt auszuhalten, ohne zu wanken — der nicht mehr versucht werden kann. Reinheit ist niemals Unwissenheit; sie ist im Getriebe der Welt das Erkennungszeichen der wahren Natur des Menschen. Reinheit ist die bewußte Kenntnis, daß ein göttliches Prinzip allen Dingen zugrundeliegt; jener geistige Blick, der durch die veränderlichen Vorstellungen des sterblichen Gemüts hindurch die dahinterliegende Wahrheit klar erkennt, der das Licht in die Finsternis scheinen sieht und das Demonstrieren des Göttlichen durch das Menschliche möglich macht. Mrs. Eddy besaß diese Erkenntnis. Reinheit des Herzens gewahrt die Verschlagenheit, das listige Wirken des fleischlichen Sinnes, gewahrt seine Vorstellungen und Beschränkungen, erkennt ihn als eine Lüge, läßt sich aber durch diese nicht verwirren. Jesus lehrte, daß niemand zweien Herren dienen kann. Da nun Reinheit der Wahrheit dient, so kann sie nicht dem Irrtum dienstbar gemacht werden.
Reinheit bedeutet innere Kraft, gesundes Wesen; sie bildet die Gewähr für körperliche Gesundheit und Stärke. Daher sagt Parzival: „Meine Kraft gleicht der von Zehnen, denn mein Herz ist rein.” Reinheit bedeutet Herrschaft über den sterblichen Sinn. Daniels geistige Reinheit wurde in der Löwengrube auf die Probe gestellt. Er vermochte den Beweis zu erbringen, daß er über Furcht und Groll, Haß und Rachsucht erhaben war. Er war in der Gegenwart Gottes und unter Seinem Schutze. Es ist sehr wohl denkbar, daß die Löwen der Gegenwart des Daniel nicht gewahr wurden, und zwar, weil er nicht dem Gegenstande ihres Verlangens entsprach. Auch Jesus wurde in jeder Weise auf die Probe gestellt, blieb aber vom Bösen unberührt, so daß er sagen konnte: „Seid getrost, Ich habe die Welt überwunden.”
Die Seligpreisung, in der es heißt: „Die Friedfertigen ... werden Gottes Kinder heißen,” ist gegenwärtig von besonderem Interesse. Durch die Christliche Wissenschaft haben wir einsehen gelernt, daß das geistige Gesetz regiert und daß das Weltall die Tätigkeit dieses Gesetzes darstellt. Das göttliche Prinzip kennt keine Abweichungen oder Ausnahmen, sondern wirkt in unwandelbarer Harmonie und Gesetzmäßigkeit. Sein unpersönliches Wirken überwindet allen Widerstand und kennt keine Rückwirkung. Über das Bewußtsein, das vom göttlichen Gesetz regiert wird, senkt sich der Friede, in ihm löst sich die Spannung der sterblichen Vorstellung, und es wird frei von dem knechtenden Einfluß der Überlieferungen. Die Erkenntnis von der Allgegenwart der unerschöpflichen Liebe bedeutet seinen Schutz und Trost, und es erklingt ihm der Gruß des Erlösers: „Friede sei mit euch.” Das Verständnis der wahren Bedeutung dieses Grußes erweckt in den Menschen einen Glauben ohne Vorurteile; es läßt sie überall die Möglichkeit erkennen, Gutes zu vollbringen, bis alle Menschen schließlich in völliger Einigkeit leben werden. Nur die Wahrheit des Seins ist unsre Rüstung, unsre geistige Zuflucht inmitten des Völkerringens. Sie ist unser Schutz vor der Bosheit der Welt, ihrem Spott und Hohn, vor den Übeln des Fleisches, vor der Furcht und vor all den Anläufen des sterblichen Gemüts. In der gegenwärtigen materiellen Erfahrung mag Trübsal sogar solche Menschen befallen, deren Sinn auf dem Felsen Christus gegründet ist. Daher ist unaufhörliche metaphysische Arbeit nötig, ein beständiges Streben nach richtiger Erkenntnis, bis die letzte sterbliche Vorstellung vernichtet ist.
Nach Paulus ist diese Rüstung des Christen vollkommen; sie reicht vom Scheitel bis zur Sohle. Richtiges Denken ist nach allen Richtungen verschanzt, empfänglich fürs Gute, fürs Böse undurchdringlich. Vor der Erkenntnis der Wahrheit muß der Irrtum schwinden. Welcher Art auch eine Aufgabe sein mag — man kann sie erledigen, wenn es sich um eine gerechte Sache handelt. Wohin wir auch geführt werden — wir können folgen, wenn das Ziel gut ist. Gleichviel, was ein Mensch tragen muß— er kann es tragen, wenn er es in der Kraft Gottes tut. Für einen solchen Menschen gibt es keinen Rückschritt. Das einzige, was ihn vielleicht schmerzt, ist der Gedanke, er könne möglicherweise seiner Aufgabe nicht völlig gerecht werden, denn sein ganzes Streben gilt der vollkommenen Erfüllung der geistigen Aufgabe, vor die er sich gestellt sieht. Diesen Geist spüren wir in der Vergebung Josephs seinen Brüdern gegenüber, im Gebet des Stephanus: „Herr, behalte ihnen diese Sünde nicht,” in Jesu Gebet: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.”
Wenn wir uns der Einheit mit Gott bewußt werden, der Obergewalt des Geistes, so verliert das Materielle seine Macht über uns. Wir wenden uns dann allein Gott zu, sowohl um selbst Erlösung zu finden als auch um andern dazu zu verhelfen, auf daß zuletzt die Leiden der ganzen Welt geheilt werden mögen.