Je mehr man auf den persönlichen Umgang mit andern Menschen hält, desto schwerer empfindet man das Alleinsein. Die Menschheit bekundet allgemein das Verlangen, angenehme Beziehungen anzuknüpfen und gute Freunde zu gewinnen. Viele nehmen an, Glück und Wohlergehen hänge zum großen Teil von der Erfüllung dieses Verlangens ab; daher ist folgende Frage, die Mrs. Eddy in Wissenschaft und Gesundheit stellt, für einen jeden von uns von hoher Bedeutung: „Wäre das Dasein ohne persönliche Freunde ein leeres Blatt für dich?” und eine bejahende Antwort annehmend, fährt sie fort: „Dann wird die Zeit kommen, da du einsam sein ... wirst” (S. 266).
Diese Stelle hat schon manchen Anfänger stutzig gemacht. „Warum,” so fragt er, „soll man keine persönlichen Freunde haben,” oder: „Was hat denn persönliche Freundschaft mit der christlichen Gesinnung eines Menschen zu tun?” Jesus sprach sich über diesen Punkt noch entschiedener aus als unsre Führerin, als er erklärte: „So jemand ... hasset nicht seinen Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern, auch dazu sein eigen Leben, der kann nicht mein Jünger sein.” Offenbar ist mit den menschlichen Beziehungen etwas nicht in Ordnung. Sie gründen sich auf eine materielle Anschauungsweise statt auf die geistige, und da der persönliche, materielle Sinn nicht die Wahrheit über den Menschen aussagt, kann er nicht die wahre Grundlage für Freundschaft und Liebe bilden. Die persönlichen Sinne erkennen nur, was zeitlich und vergänglich ist, und diejenigen, die an ihnen festhalten, in dem Glauben, sie brächten die Wirklichkeit des Lebens zum Ausdruck, können wohl mit Hiob sprechen: „Die Verwesung heiße ich meinen Vater und die Würmer meine Mutter und meine Schwester.” Im selben kläglichen Ton ruft der Psalmist aus: „Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch, ein Spott der Leute und Verachtung des Volks.”
Die Wahrheit über den Menschen und nicht eine willkürliche Bestimmung fordert das Aufgeben einer falschen Anschauung vom Menschen. Jesus ließ an Stelle des menschlichen Begriffs von Elternschaft die Wahrheit treten, daß der Mensch allein von Gott stammt, daß Gott ihn „krönet mit Preis und Ehre” und ihm Herrschaft gibt über die Werke Seiner Hände. Auf derselben geistigen Basis will nun die Christliche Wissenschaft alle menschlichen Beziehungen klären. Dabei läßt sie alles Gute und Förderliche stehen und treibt nur Neid, Enttäuschung, Selbstsucht und Treulosigkeit aus — Regungen, die die menschlichen Beziehungen je und je gekennzeichnet haben. Ist es nicht offenbar, wie sehr die menschliche Gesellschaft dieser Befreiung in sittlicher und geistiger Hinsicht bedarf?
Die Tatsache, daß der Mensch nicht materiell sondern geistig ist, macht die Worte Jesu verständlich und führt zu dem wissenschaftlichen Schluß, daß ein Mensch, dessen Bewußtsein vom Guten sich auf die Vorstellungen der sterblichen Sinne beschränkt, dereinstens die Hohlheit alles Materiellen erkennen und sich so verlassen fühlen wird wie ein einsamer Wüstenbewohner. Doch folgen auf besagte Stelle gleich die verheißungsvollen Worte: „Aber diese scheinbare Leere ist bereits von der göttlichen Liebe erfüllt.” Dem materiellen Sinn scheint durch das Fehlen oder den Verlust persönlicher Freunde eine Leere zu entstehen, für den geistigen Sinn aber ist aller Raum mit Gutem erfüllt; daher hat es für den geistigen Sinn niemals eine Leere gegeben und wird es nie eine solche geben. Gott schuf den Menschen als Ausdruck Seines eignen Seins, und aus Grund dieser Wahrheit kann im Bewußtsein des Menschen nie eine Leere entstehen.
Wahre Freundschaft bietet viel Schönes und Angenehmes; aber ihre Freuden entstehen nicht durch die persönliche Beziehung als solche, sondern dadurch, daß in uns Gefühle des Wohlwollens und der Liebe erweckt werden. Der Glaube, als hänge unser Glück von einer andern Person ab, kann sich plötzlich in eine Quelle der Trübsal verwandeln. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit, dieser Vorstellung zu entwachsen. Wir müssen einsehen lernen, daß bloße persönliche Zuneigung bestenfalls ein seichter Quell ist. Wenn er mit dem Behältnis der göttlichen Liebe keine Verbindung hat, versiegt er bald. Der menschliche Begriff von Liebe hat der menschlichen Not nicht zu steuern vermocht. Er ist zu sehr auf sich selbst eingestellt, als daß er die enge, beglückende Beziehung, die zwischen den Kindern Gottes herrscht, zum Ausdruck bringen könnte.
In der Christlichen Wissenschaft wird Gott, das göttliche Prinzip, als der einzige Quell des Guten angesehen, daher als die einzig wirkliche und dauernde Anziehungskraft. Der menschliche Wahn nun sucht diese Wahrheit umzukehren und die Persönlichkeit zum Anziehungspunkt, zum Quell des Guten zu machen. Da aber Gott die einzige Ursache ist, so kann der Mensch nur als Seine Schöpfung bestehen; seine Tätigkeit besteht daher nicht darin, Gutes zu absorbieren, sondern Gutes wiederzustrahlen. Die Kinder Gottes erhalten nichts voneinander, denn in der absoluten Wahrheit ist der Mensch ebenso vollkommen wie der Vater und hat nichts weiter nötig, als sein wahres Selbst zum Ausdruck zu bringen. Wenn die Menschen etwas voneinander erhalten könnten, so wäre der Mensch seinem Wesen nach nicht Wiederspiegelung sondern Ursächlichkeit.
Die Sterblichen nun kehren mit ihrer gegenseitigen Anhänglichkeit diese Wahrheit um. Sie suchen fortwährend etwas von andern Sterblichen zu erlangen, die wie sie selber sind. Sie erwarten von einem Menschen nicht nur Glück, sondern auch ihre täglichen Versorgungsmittel. Das Kind verläßt sich auf die Mutter, die Gattin auf den Gatten, der Mann auf den Arbeitgeber usw. Dieses Sichabwenden vom Prinzip und Sichverlassen auf die Person ist die Ursache von Mangel, gleichviel welcher Art. Wer sich auf den persönlichen Sinn verläßt, ist den Veränderungen und Beschränkungen dieses Sinnes unterworfen, lebt heute im Überfluß, morgen im Mangel, freut sich heute, ist morgen traurig.
Je eher wir lernen, daß kein Mensch aus sich selber der Not eines andern steuern kann, desto eher sind wir bereit, unsre falschen Begriffe von Vater, Mutter und Freunden aufzugeben — desto eher werden wir die Erfüllung von Jesu Verheißung erleben, daß diejenigen, die die geistige Idee finden und sie zu ihrem Führer machen (nämlich die Wahrheit über Gott und den Menschen), schon in dieser Welt einen ungleich höheren Begriff von wahrer Vaterschaft und Brüderschaft, von dauernder Freundschaft und Liebe erlangen. Wenn sich uns das Verständnis erschlossen hat, daß die Substanz alles Guten Gott ist, wenden wir uns wegen aller Dinge, die zur Wohlfahrt und zum Segen führen, allein Gott zu. Wie wahr sind doch die Worte des Psalmisten: „Denn bei dir ist die Quelle des Lebens, und in deinem Licht sehen wir das Licht.”
Dies bedeutet nicht, daß wir den Umgang mit gleichgesinnten Menschen meiden sollen; denn wer könnte sich über wahre Freundschaft mehr freuen, als die, die die Wahrheit übereinander kennen? Je besser wir verstehen, daß unser göttlicher Quell unerschöpflich ist und daß wir nicht von ihm getrennt werden können, desto ungehinderter werden wir göttliche Eigenschaften zum Ausdruck bringen, desto mehr Freude werden wir haben, gleichviel, ob wir allein sind oder mit andern. Durch gegenseitigen Umgang wird sowohl das Gute wie das Böse im Denken eines Menschen angeregt, so daß uns also freundschaftliche Beziehungen sowohl zum Nutzen wie zum Nachteil gereichen können. Dabei ist es aber doch immer die Tätigkeit in unserm Bewußtsein, die unser Wohl beeinflußt, nicht die im Bewußtsein eines andern. Manche Menschen sprechen uns mehr an als andre, und wir nennen sie dann gleichfühlend oder gesinnungsverwandt. Dies läßt sich mit dem Gefühl der Befriedigung vergleichen, das man beim Hören guter Musik hat. Unsre Freude liegt nicht in der Musik selber, noch im bloßen Zuhören, sondern in dem Widerhall, den die Musik in unserm Gemüt erweckt. Wir haben eben immer den Fehler begangen, solche Wirkungen falschen Ursachen zuzuschreiben; daher das Gefühl des Verlustes, wenn wir unsre Freunde nicht mehr sehen können. Dieses Gefühl ist aber offenbar etwas, was nur als Vorstellung besteht, da nichts des Menschen Fähigkeit verringern kann, Gott zu kennen und Ihn zum Ausdruck zu bringen. „Der Christliche Wissenschafter,” schreibt Mrs. Eddy, „ist allein mit seinem eignen Sein und mit der Wirklichkeit des Seins” („Message for 1901,“ S. 20). Doch dieses Alleinsein ist das Gegenteil von Einsamkeit oder Verlassensein. Was ist unser Sein andres als die Wiederspiegelung der unendlichen göttlichen Liebe, und was ist die Wirklichkeit der Dinge andres als die Vollkommenheit der ganzen Schöpfung Gottes, wie sie geistig erkannt wird?
„Ein Tautropfen,” so schreibt Mrs. Eddy weiter, „spiegelt die Sonne wieder” („Pulpit and Press,“ S. 4)— nicht einen Teil der Sonne, sondern das Ganze. Tausend Tautropfen vereinigt vermöchten nicht mehr, denn sie erhalten alle ihr Licht von der Sonne, nicht voneinander. Es gibt nur das eine Gute, und diese universelle wohltätige Macht ist nicht ein Schatz, an dem sich einige Bevorzugte erfreuen können, sondern der allen in gleichem Maße zugute kommt.
Wenn Gott Liebe ist, wie die Bibel erklärt, so gibt es nur eine Liebe, und dieser göttliche Hauch, diese göttliche Eingebung läßt sich nicht in eine Person zwängen, sondern ist der ewig fließende Quell des Lebens, aus dem die Wahrheit die ganze Menschheit trinken heißt.
Wenn wir uns von der Persönlichkeit abwenden und uns an das Prinzip halten, so werden wir erfahren, daß der wahre Gott stets mit uns ist, und in dieser erweiterten, mehr göttlichen Anschauung vom Sein wird jeder rechte Wunsch sicherlich erfüllt werden. Wir erfahren dann immer wieder, daß jede „scheinbare Leere ... bereits von der göttlichen Liebe erfüllt” ist.
Wenn wir all’ uns liebten hienieden,
Wie du uns liebst, mein Herr und Vater,
Wenn der Mensch den Menschen säh’ im Freunde
Und auch in seinem Feinde nur den Menschen,
Dann wäre nicht dort oben bloß dein Reich,
Auch unter uns wär’ es, auch hier, hienieden,
Und der Liebe Machtgebot geschäh’
Wie im Himmel, also auch auf Erden!