Der Begriff der Wiederspiegelung, wie er in der Christlichen Wissenschaft dargelegt wird, ist von überaus großer Wichtigkeit. Wer ihn auch nur einigermaßen erfaßt hat, darf sehr dankbar sein. Er tut gut, tiefer in diesen Gegenstand einzudringen, denn es handelt sich hier um eine der Grundlehren, auf denen der ganze Oberbau der Christlichen Wissenschaft ruht. Unser Begriff von Unsterblichkeit und unsre Fähigkeit, richtig zu handeln, stützt sich auf unser Verständnis von des Menschen wahrer Wesenheit als des vollkommenen Spiegelbildes Gottes.
Die Welt im allgemeinen scheint jedoch diese große Wahrheit nicht zugeben zu wollen. Sie stimmt der Christlichen Wissenschaft darin bei, daß Gott vollkommen ist; aber daß auch der Mensch diese Eigenschaft hat, weist sie entschieden zurück. Sie gibt zu, daß Gott erhaben ist über die unzähligen Übel, die „unsres Fleisches Erbteil” sind (eine gegenteilige Behauptung in bezug auf das höchste Wesen wäre in der Tat beinahe undenkbar); und dennoch glaubt sie, der Mensch sei diesen Übeln unterworfen. Dies ist wohl auf den Umstand zurückzuführen, daß die Welt bis jetzt noch nicht den Unterschied erkannt hat zwischen dem von Gott geschaffenen Menschen und dem sogenannten Sterblichen, der in der Vorstellung des menschlichen Gemüts existirt. Die Christliche Wissenschaft erklärt den Unterschied, indem sie lehrt, daß der Mensch als das Spiegelbild des Geistes nicht materiell sein kann, sondern ganz und gar geistig ist. Deshalb kommt der wahre Mensch nicht als materieller Körper zum Ausdruck, wie denn auch die materiellen Sinne ihn nicht wahrnehmen können. Auf Seite 305 von Wissenschaft und Gesundheit schreibt Mrs. Eddy: „Ebenso wie keine Körperlichkeit in der Gestalt im Spiegel ist, die nichts als eine Wiederspiegelung ist, so spiegelt der Mensch, wie alle wirklichen Dinge, Gott, sein göttliches Prinzip, nicht in einem sterblichen Körper wieder.”
Betrachten wir einmal zur weiteren Erläuterung dieser Sache das Spiegelbild einer Rose ein wenig näher. Wir bemerken zuvörderst, daß es keine Körperlichkeit besitzt. Obschon es in Größe, Farbe, Form usw. das genaue Gegenstück der Rose vor dem Spiegel ist, so hat es doch all diese Eigenschaften ohne materielle Beimischung; mit andern Worten, seine wahre Substanz ist nicht materiell. Es ist nicht die Rose in der Kristallvase, sondern das Bild und Gleichnis davon. Und verhält es sich nicht ebenso mit dem Menschen, von welchem Gott sagte: „Laßt uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei”?
Sodann sehen wir in unsrer Veranschaulichung, daß das Spiegelbild nichts enthalten kann, was von dem Original verschieden ist. Schuldet es nicht sein ganzes Dasein der Rose vor dem Spiegel? Wenn diese weggenommen würde, könnte dann das Spiegelbild auch nur einen Augenblick weiterbestehen? Ist es selbstschöpferisch? Vermag es etwas widerzuspiegeln, was nicht in seinem Vorbild enthalten ist? Kann es zerfallen, verwelken, dahinsterben? Da es seine Wesenheit nie selbst aufrecht erhielt, steht es ihm da frei, dem ein Ende zu machen, worüber es nie Macht hatte? Kann es in irgendeiner Weise beraubt werden? Kann es das Opfer des Zufalls, des Wechsels oder eines Unfalls sein, solange der andern Rose nichts geschieht? Könnte es ein einziges Blatt verlieren, ohne daß ein solches zuerst von der Rose vor dem Spiegel abfiele? Und das wunderbarste von allem: sind es in Wirklichkeit zwei Rosen oder ist es nur eine? Die Antwort auf diese Fragen findet sich auf Seite 361 von Wissenschaft und Gesundheit: „Wie ein Wassertropfen eins ist mit dem Ozean, wie ein Lichtstrahl eins ist mit der Sonne, so sind Gott und der Mensch. Vater und Sohn, eins im Wesen.”
Fassen wir deshalb Mut, sollte es auch dem menschlichen Sinn scheinen, als ob sich ein Gewitter über uns entlade. In solchen Fällen wie in allen andern brauchen wir uns nur zu vergegenwärtigen, wer lind was wir sind. Wenden wir uns entschieden ab von den schreckenerregenden Bildern, welche das Sinnenzeugnis unserm geängstigten Bewußtsein vorführt, und richten wir unsre Gedanken auf die Schönheit, die Vollkommenheit, die Erhabenheit, die Macht, Kraft und Gegenwart dessen, der „herrschet mit seiner Gewalt ewiglich.” Mag der Sturm toben wie er will, er vermag nichts als in leerer Wut gegen den Spiegel zu peitschen, worin, wie in einer uneinnehmbaren Festung, das göttliche Spiegelbild erhaben und unantastbar dasteht.
Und was ist dieser schützende Spiegel? „Nenne den Spiegel göttliche Wissenschaft,” schreibt Mrs. Eddy auf Seite 515 von Wissenschaft und Gesundheit. Die göttliche Wissenschaft ist die Wahrheit über Gott und den Menschen. Und ist die Wahrheit über den Menschen nicht gerade das, was den Menschen beschützt? Wie man in einem klaren Spiegel sein eignes Bild sieht, so lernt man in der Christlichen Wissenschaft sich so sehen, wie man wirklich ist, nämlich als die Wiederspiegelung des einen vollkommenen Gemüts, vom Leben aufrechterhalten, von der Wahrheit genährt und von der Liebe regiert. Verstand nicht der große Lehrer, Christus Jesus, dieses Einssein mit Gott, dem Guten, und suchte er nicht vor zweitausend Jahren, eine träge und zweifelnde Welt davon zu überzeugen? „Der Sohn kann nichts von ihm selber tun, sondern was er siehet den Vater tun; und was derselbige tut, das tut gleich auch der Sohn.”
Seien wir also treue Zeugen Gottes, Zeugen alles dessen, „was wahrhaftig ist, was ehrbar, was gerecht, was keusch, was lieblich, was wohl lautet.” Wir sollen Schönheit und Freude zum Ausdruck bringen. Wir sollen die Welt glücklicher machen. Dabei müssen wir aber darauf sehen, daß die von uns wiedergespiegelten Eigenschaften auf das Original hinweisen, damit die Menschen nicht uns, sondern den Vater im Himmel preisen.
